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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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wenigstens –
    – Was tust du!?
    Ich hatte geschrien, sofort wurde ich wieder leiser. Kein Grund, seine Mutter anzulocken.
    – Gar nichts, sagte er.
    Er hatte seinen Zeigefinger auf die Pfeil-nach-oben-Taste gelegt, sodass seine Spielfigur auf meine zusteuerte, ohne Attacke, ohne Chance. Ich besiegte sie und schrie ihn wieder an:
    – Was soll das?
    – Es ist eh schon aus, sagte er.
    Sein dickes Gesicht, seine Weichheit, seine unangebrachte Liebe, die er mir auch noch vorenthielt, solange seine Mutter in der Wohnung war – all das trieb mich zur Tat, zum ersten Befreiungsschlag. Ich warf mich auf ihn und schlug ihm mit der Faust gegen die Stirn. Er quietschte unter meinem Gewicht und strampelte. Ich haute noch einmal zu, diesmal auf seine straff gespannte Wange. Sofort leuchteten ein paar rote Flecken auf. Er starrte zu mir hoch, verwirrt, ängstlich. Ich hätte ihm auf der Stelle einen kleinen Metallring durch die Lippe oder das Ohrläppchen schlagen können.
    Ein paar Sekunden nach der Attacke ging es schon nicht mehr um die Tat selbst, es war vielmehr die Verbindung bestimmter Dinge und Gegenstände, die augenblicklich notwendig schien. Die Brille, die Finger, der runde, helle Schädel, das fleckige T-Shirt, die Schultasche, das alles brüllte nach Verschmelzung, nach Entweihung. Ich riss an Michaels Arm und verdrehte ihn, der Widerstand des Gelenks nahm zu, mir wurde heiß.
    Die Wohnungstür fiel ins Schloss.
    Michaels Augen weiteten sich, und er schrie um Hilfe. Ich hatte noch nie ein Kind um Hilfe schreien gehört, außereinmal – mich selbst, als ich im Lift unseres Hauses feststeckte und erst drei Stunden später befreit werden konnte. Seitdem vermied ich jeden Kontakt mit dem Aufzug, als wäre er eine unanständige Körperstelle, über die man mit niemandem sprechen durfte. Nachts hasste ich sein keuchendes Fahrgeräusch in den Wänden.
    Ich drehte noch stärker an Michaels Arm, er weinte und schrie nach seiner Mutter, die noch im Treppenhaus sein musste. Ich berührte seine Stirn und die Schläfen. Er ließ es geschehen. Etwas Finsteres wohnte in der Berührung von Michaels Kopf, in der Art, wie ich die Form seines Schädels unter seinen kurzen Haaren spüren konnte. In dem Gefühl lag ein quälendes, lähmendes Begehren, das Verlangen, in irgendeine Richtung weiterzugehen. Ohne ihn loszulassen, betastete ich meinen eigenen Kopf, um zu sehen, ob sich das Gefühl reproduzieren ließ. Ich sagte einige Male laut seinen Namen: Mich-a-el, Milch-al-eel .
    Ich fasste nach seiner Brille und zog daran, langsam und vorsichtig, wie man die Schutzfolie von einem Abziehbild löst. Er begann sofort zu blinzeln. Auf einem Brillenglas lag eine kleine, runde Träne. Ich roch an der Brille.
    – Mund auf, befahl ich ihm.
    Er schüttelte den Kopf, er wand sich unter mir, wie ein Fisch, der zurück ins Wasser will. Ich griff in sein Gesicht und öffnete seine Lippen mit Daumen und Zeigefinger. Er wehrte sich, aber ich schaffte es, die Brille zwischen seine Zähne zu schieben. Er hatte aufgegeben, lag nur mehr da, die Brille im Mund, und weinte.
    Ich hatte Mitleid, ich wollte aufhören. Das Telefon in der Wohnung klingelte.
    Ich fuhr ihm einmal über den Kopf, das kurz geschorene Haar, das Gefühl an meinen Fingern brachte den Wahnsinn, den finsteren Taumel wieder; ich grub ihm meine Nägel in die Wangen, dabei bemerkte ich, wie sich mein Mund verzerrte, ohne dass ich es kontrollieren konnte – er wurde zu dem halbgeöffneten Mund, den man nach einem starken Weinkrampf hat, mehr eine offene Wunde als ein Mund. Ich schluckte. Das Gefühl seiner nachgebenden Haut unter meinen Fingernägeln. Es war genug, ich musste jetzt aufhören. Das Telefon läutete ein letztes, halbes Mal und blieb dann stumm.
    Ich stieg von ihm herunter. Zuerst spuckte Michael die Brille aus, sie fiel auf den Teppich. Er hatte zu weinen aufgehört. Ohne mich zu beachten, ordnete er seine verrutschte Kleidung und putzte seine Brille an einem Hemdsärmel.
    Ich setzte mich wieder vor seinen Computer.
    – Kommst du jetzt, sagte ich.
    Er setzte sich auf sein Bett, zog sich die Socken aus und wieder an. Ein verzweifelter Versuch, etwas Ordnung zurückzugewinnen. Danach stand er auf und kam tatsächlich zu mir, und wir spielten weiter gegeneinander. Aber er schaute nur starr auf den Bildschirm, sein Gesicht war ausdruckslos wie ein Stapel Papier. Seine dicken Finger mit den abgekauten Nägeln tänzelten ungeschickt über die Tastatur. Ich ließ ihn
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