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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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Kunststück wohl nicht mehr hinbekommen, meine Freunde zu werden.
    An dem Tag, als ich den weißen Papiertaler, der Teiledes Erlösers enthielt und nach nichts schmeckte, in der Kommunion empfing, aber nicht schluckte, habe ich das erste Mal jemanden geschlagen. Michael.
    – Dalleib Christi, sagte Pater Johann und tat dann das Ungeheuerliche, das er schon einige Male getan hatte, etwas, das mich elektrisierte und beinahe in Ohnmacht fallen ließ – er legte mir die kleine, weiße Hostie auf die Zunge. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich ganz von selbst den Mund offen gehalten hatte, was mich noch mehr verwirrte und anstachelte. Dann fiel mir ein, dass nur geschehen war, was mir vorher schon von allen lang und breit erklärt worden war.
    Die Hostie blieb am Gaumen kleben und wurde ein weißer und zäher Brei, wenn man nicht aufpasste. Wir allerdings passten auf.
    Es war ganz einfach. Man musste nur vorher eine halbe Stunde mit offenem Mund herumrennen, bei Wind, mit offener Jacke, im Park oder vor der Kirche. Oder, wenn das nicht möglich war, pfeifend ein- und ausatmen, so als wäre man verschnupft. Mit ausgetrockneter Kehle wartete man die Messe ab, dann empfing man – welch eigenartiger Schauder packte mich jedes Mal aufs Neue bei diesem Wort – die Kommunion, die weiße Oblate. Sie klebte sofort an der Innenseite des Mundes fest, und man konnte sie gefahrlos hinaustragen und den Freunden zeigen, die mit ihren Eltern vor der Kirche herumstanden, auf dem Kiesweg, gleich neben einem unordentlichen Fahrradständer.
    Über dem Altar, sehr weit oben, gab es ein rundes, weißes Fenster aus Milchglas, das ich immer anstarrte, wenn ich empfing . Es war genauso rund und weiß wie die Hostie in meinem Mund, und die Distanz zwischenmir und dem hohen Fenster verringerte sich fast auf null, wenn sich die kleinere Version davon, die Hostie, an meinen Gaumen legte. Wie ein Seil, das zwischen zwei weit entfernten Punkten gespannt wird. Das Fenster war einer der wenigen Gegenstände, die eine unleugbar heilige Wirkung auf mich hatten, ähnlich wie der Anblick einer verfaulten Blume, der eigenen Haut unter einem starken Vergrößerungsglas oder der toten Fische auf dem Bauernmarkt mit ihren entsetzt starrenden Augen.
    Am Kirchenparkplatz, allein mit ein paar Freunden, sperrte ich meinen Mund auf und zeigte ihnen die intakte Hostie.
    – Gib …
    – Lass mich!
    Michael griff mir mit seinen nach Speichel riechenden Fingern ins Gesicht, auf meine Lippen. Ich wehrte ihn ab. Er taumelte wieder näher, dümmlich und verspielt. Ich rammte ihm meine Faust in den Bauch, dann schlug ich ihm, während er sich krümmte, ins Genick. Die Freunde wichen vor uns zurück.
    Michaels Mutter hatte uns gesehen und eilte ihrem Sohn zu Hilfe. Sie spuckte ein paar Beschimpfungen in meine Richtung, dann zog sie ihn am Handgelenk davon. Er ließ sich führen wie ein Blinder, von der Erkenntnis, dass sein Körper Schmerz empfinden konnte, ganz benebelt.
    Ich blieb zurück und begann erregt zu kauen.

    In der Ferne winkten fallende Schornsteine, wie ein Lauffeuer breitete sich die Hölle über die Gegendaus, über den Volksgarten, das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, das Orpheum, die Parkgarage. Über den Hinterhof unseres Hauses, über die Balkone und Fenster. Über die Vogeltränke, über meine Fingerspitzen. Sogar auf meiner Haut breitete sie sich jetzt aus, eine Hölle wie warmes, feuchtes Moos, eine Hölle wie ein Medaillon, das man mit sich herumträgt, eine Hölle wie eine verbotene Körperstelle, die niemals ganz trocken wird, auf der alles immer festklebt und sich langsam auflöst wie Löschpapier. Ein Haarföhn löste sich aus meiner Schulter, er tropfte auf den Boden. Er war winzig klein und lebendig. Ich berührte ihn mit der Fußspitze, da begann er sich im Kreis zu drehen wie ein Feuerwerkskörper. Es musste davon noch Hunderte in meinen Schultern geben.
    Entsetzt atmete ich aus. Beim Aufstehen schleifte ich die Bilder des Traums an einer langen, scheppernden Drachenschnur hinter mir her.
    Ich betrat die Küche. Wie immer verharrten meine Eltern für einen Augenblick in der Position, in der sie sich gerade befanden. Ich hatte sie unterbrochen . Ich unterbrach sie die ganze Zeit. Andere Kinder begrüßten oder überraschten, ich unterbrach.
    Meine Mutter stand am Herd. In der Hand hielt sie einen Löffel und schabte etwas aus einer Pfanne. Mein Vater starrte sie an.
    – Kannst du das lassen?
    – Was?
    – Dieses Geräusch. Dieses
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