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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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hervor. Auf ihr lag, wie das Silbertablett auf den Spinnenfingern eines Kellners, säuberlich aus dem Rahmen gelöst, das kreisrunde, mädchenkopfgroße Milchglasfenster aus der Kirche.

Die Waage
1
    Das Treppenhauslicht ging aus, und Daniel stand in vollkommener Dunkelheit vor einer Wohnungstür im vierten Stock. Die Musik, die aus der Wohnung dröhnte, klang in dem nackten, fensterlosen Korridor hart und unveränderlich. Daniel schaltete das Licht wieder ein; er musste sich weit vorlehnen, um den Lichtschalter zu erreichen. Das Türschild, auf das Daniel zuletzt gestarrt hatte, erschien wieder und hieß genauso wie vorher, Gerd & Elfriede Kaiser .
    Daniel stand eine Weile da und hörte zu, wie sich die Musik in einen weiteren epileptischen Anfall hineinsteigerte – dann ließ er sich von seinen Füßen umdrehen und ging die Treppe hinunter, zurück in die Wohnung.
    – Und?
    – Ich hab’s ihnen gesagt, sagte Daniel.
    Er bückte sich und zog sich die Schuhe aus. Seine Frau ging sofort ins Schlafzimmer.
    – Keine Spur leiser, rief sie von dort.
    – Was?
    Daniel legte die Kleider ab, die er über seinen Pyjama angezogen hatte.
    Rita kam aus dem Schlafzimmer zurück.
    – Nicht der geringste Unterschied, sagte sie.
    – Mehr als es ihnen sagen kann ich nicht.
    – Und was genau hast du gesagt?
    – Dass sie die Musik leiser stellen sollen, sagte er. Weil hier Leute wohnen, die schlafen möchten.
    – Und?
    – Also der Mann, der aufgemacht hat, hat einfach nur genickt und die Tür wieder geschlossen. Aber nicht unfreundlich. Es hat zumindest nicht so ausgesehen, als würde er mich verarschen oder ignorieren oder … Vielleicht will er sich nur das eine Lied noch zu Ende anhören.
    – Es ist halb zwei!
    – Ja, ich weiß.
    – Außerdem hört der keine Lieder, sagte sie, das ist irgend so eine endlose Technoscheiße.
    – Ach, das kommt uns hier unten wahrscheinlich nur so vor, sagte Daniel.
    Er fragte sich, ob er rot geworden war. Sein Gesicht fühlte sich heiß an. Er versuchte, Rita nicht anzusehen.
    – Weißt du was?, sagte sie. Der da oben schert sich einen Dreck um das, was du ihm gesagt hast!
    – Kann sein. Ich habe getan, was ich konnte, sagte er und ging an Rita vorbei ins Badezimmer.
    Er wusch sich die Hände und klatschte sich ein wenig kaltes Wasser auf die Wangen.
    Später musste er wieder an das Türschild denken und die Namen, die darauf standen, selbst jetzt noch, während er längst im Bett lag und versuchte, die in den Wänden feststeckende Musik zu vergessen.
2
    Im Postkasten fand er einen Brief, in dem etwas über Zeit stand – dieses Wort blitzte in Großbuchstaben einige Male aus dem Text hervor. Es handelte sich um ein Werbeschreiben einer neuen Versicherung. Er hatte Mühe, den Text zu lesen, da es im Stiegenhaus dunkel war und seine Augen in den letzten Monaten wieder schlechter geworden waren. Er hatte noch keine Zeit gefunden, sich eine neue Brille zu besorgen. Dazu kam die Schlaflosigkeit, die machte alles noch schlimmer.
    Er drehte den Werbebrief unschlüssig zwischen seinen Fingern, dann legte er ihn zu den bunten Gratisbroschüren, die in den Müll wandern sollten.
    Er sperrte den Postkasten zu, steckte den Schlüssel ein und ging durch die Hintertür in den Hof. Grelles Sonnenlicht empfing ihn. Er schirmte seine Augen mit einer Hand ab.
    Zuerst hielt er das, was er neben den Mülltonnen stehen sah, für eine große Uhr; eines jener altertümlichen Exemplare, die sich in adligen Landhäusern finden und in deren Bauch man melancholische Pendel und Zahnräder dabei beobachten kann, wie sie sich zu einer geheimen Trauermusik bewegen.
    Er trat näher. Ein kleiner Metallkasten hockte links über dem Uhrengesicht, auf dem Kasten drei stilisierte Münzen und darunter die Zahlen 2, 1 und 50. Die Waage hatte eine metallene Trittfläche, auf der die stilisierten Abdrücke zweier nackter Füße zu sehen waren.
    Jemand schien das monströse Ding entsorgen zu wollen. Andererseits, dachte Daniel, wurde Sperrmüll hier gar nicht mitgenommen.
    Daniel setzte vorsichtig einen Fuß auf die Trittfläche der Waage und ließ ihn wippen. Nichts geschah. Er versuchte es mit mehr Kraft und sah, dass der kleine schwarze Zeiger ein wenig zu zittern begann. Die Münzautomatik funktionierte offenbar noch, die Waage war nicht kaputt. Seine Hand wanderte, ohne nachzudenken, in seine Hosentasche, auf der Suche nach Kleingeld, dann schüttelte er den Kopf über diese dumme Idee. Er hatte eine Waage bei sich im
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