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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Autoren: Setz Clemens J.
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verabschieden.
    Er starrte auf das schwarze Telefon. Er überlegte, ob er sich noch einmal melden sollte, um sich zu entschuldigen, aber er hatte bereits zweimal angerufen, und sie hatte etwas gereizt reagiert. Gereizt, kurz angebunden. Außer Atem. Heute wie gestern.
    Daniel drehte sich in seinem Bürosessel hin und her. Er hatte seiner Frau gar nicht erzählt, dass sie ihn dazu genötigt hatten, auf die Waage zu steigen. Vielleicht nicht direkt genötigt. Ich hätte auch nein sagen können, sagte er sich. Und außerdem, was war schon dabei? Sein Geld war es nicht gewesen. Und für mein Gewicht, dachte er, muss ich mich nicht schämen. Es war ein normales Gewicht.
    Er hörte Musik aus dem Nebenraum und ging zur Tür.
    – Ruhe bitte, sagte er.
    Zwei Kollegen, die erst vor einer Woche in der Firma angefangen hatten, blickten verwundert auf. Aber anstatt das Radio, das in Harmlosigkeit erstarrte Volksmusik von sich gab, leiser zu stellen, warteten sie, bis Daniel sich wieder in sein Büro zurückgezogen hatte.
6
    Als er mit dem Wagen auf seinen Parkplatz zusteuerte, musste Daniel anhalten und warten. Greith, der neuerdings offenbar den ganzen Tag im Garten verbrachte, stand im Weg und spielte mit einer blechernen Gießkanne.
    Daniel hupte, Greith blickte auf, lachte, entschuldigte sich mit einer Geste und trat zur Seite. Er hinterließ einen nassen Rorschachfleck auf dem Asphalt, als er zur Waage ging.
    Greith kniete sich mit einem kleinen Ölfläschchen in der Hand davor nieder, als wollte er beten.
    Daniel stieg aus dem Wagen, und sofort winkte ihnGreith zu sich. Daniel tat so, als würde gerade jetzt sein Handy läuten. Er kramte es eilig hervor, hielt es sich besorgt an die Wange und verschwand im Stiegenhaus.
    Neben dem Postkasten hing ein Zettel. Er trat näher. Diese Idioten, dachte er.
    Offenbar machten sie sich einen Spaß daraus, über ihre sinnlosen Wiegeresultate Buch zu führen. Der Zettel listete in einer schmucklosen Exceltabelle die Namen aller Mieter auf, auch die von Gerd und Elfriede Kaiser. Gerd wog 90 Kilo, kein Leichtgewicht. Am Seitenrand standen ein paar Ergänzungen in krakeliger Handschrift, die Daniel nicht entziffern konnte. Aber er erkannte den Zettel wieder, es war der Werbebrief von der Versicherung.
    Außer Greith und Gruber wog kein Mann im Haus mehr als 100 Kilo. Er suchte nach seinem eigenen Namen und fand ihn; daneben standen zwei Fragezeichen.
    Diese Spinner, dachte er.
    Seine Frau fehlte. Erleichtert atmete er aus. Nachdem er mit der Hand über seine Stirn gewischt hatte, kam ihm das schon selbstverständlich vor. Es war völlig unsinnig, sich Sorgen zu machen.
    Trotzdem strich er den aufgerollten Zettel glatt, dankbar und etwas zittrig, dann suchte er nach anderen Namen, die ihn interessierten. Es wohnten so viele Parteien in dem vierstöckigen Haus, viele davon waren erst vor ein paar Monaten eingezogen, und einige Namen sagten ihm noch überhaupt nichts. Es gab nur wenige Konstanten, er selber gehörte dazu. Greith natürlich. Gruber auch. Und ein alter Jamaikaner, den alle Eric nannten und der – Daniels Finger suchte denentsprechenden Eintrag – 75 Kilo wog. Er hätte ihn auf mehr geschätzt.
    – Noch lange nicht vollständig.
    Daniel taumelte zur Seite.
    – Nicht alle wollen auf unserem Dinosaurier reiten, sagte Greith fröhlich und wischte sich die öligen Finger an seinem T-Shirt ab.
    Dinosaurier reiten , sagte das Echo in Daniels Kopf, während er mit einem mühsam aufrechterhaltenen Lächeln die Treppen hinaufstieg.
    Greith blieb stehen und sah ihm nach. Er blickte gar nicht unfreundlich.
7
    Es war früher Morgen. Das Frühstücksei in dem roten Holzbecher sah aus, als würde es intensiv über etwas nachdenken. Ein stiller, runder Gegenstand. Daniel klopfte den weißen Kopf mit der Rückseite eines Teelöffels auf und brachte die Schale mit seinem Fingernagel genüsslich zum Abblättern. Der reizende Gegensatz von harter Eierschale und weichem Inneren weckte seinen Appetit. Während er das Ei auslöffelte, schaute er aus dem Fenster.
    Er hatte an diesem Morgen drei Kreuzworträtsel hintereinander gelöst. Die Lösungswörter waren Schiffbruch, Karate und Sri Lanka .
    Draußen blubberte schon die ganze Zeit ein Polizeihubschrauber.
    Als Daniel mit dem Schneidezahn an die Kaffeetasse stieß, fiel ihm auf, dass er Angst hatte. Das Gefühl verhinderte,dass er sich frei bewegen konnte. Als stünde er bis zu den Schultern in eiskaltem Wasser. Wenn er schluckte, musste er
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