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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Autoren: Gabriel García Márquez
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selbst zu merken, im Sitzen tanzte, während der Kapitän in der Dunkelheit des Boleros mit seiner sanften Kraftmenschin verschmolz. Fermina Daza trank so viel Anisschnaps, daß man ihr die Treppen hinaufhelfen mußte, und in einem Anfall, der alle in Sorge versetzte, lachte sie dabei Tränen. Als sie sich dann aber in der duftenden Stille der Kabine wieder gefaßt hatte, gaben sie sich einer ruhigen und wohltuenden Liebe hin, die ihr als die schönste Erinnerung an diese irrwitzige Reise im Gedächtnis bleiben sollte. Sie fühlten sich nicht, wie Zenaida und der Kapitän meinten, als frisch verliebtes Paar und schon gar nicht als späte Liebende. Es war, als hätten sie den harten Leidensweg des Ehelebens übersprungen, um ohne Umwege zum Kern der Liebe vorzudringen. Sie lebten dahin wie zwei alte, durchs Leben kluggewordene Eheleute, jenseits der Fallen der Leidenschaft, jenseits des grausamen Hohns der Hoffnungen und der Trugbilder der Enttäuschungen: jenseits der Liebe. Denn sie hatten genug zusammen erlebt, um zu erkennen, daß die Liebe zu jeder Zeit und an jedem Ort Liebe war, jedoch mit der Nähe zum Tod an Dichte gewann. Sie wachten um sechs Uhr auf. Sie hatte nach Anis duftende Kopfschmerzen und ein banges Herz, da sie das Gefühl gehabt hatte, Doktor Juvenal Urbino sei, dicker und jünger als bei seinem Sturz vom Baum, zurückgekehrt und säße im Schaukelstuhl auf sie wartend am Hauseingang. Sie hatte die nötige geistige Klarheit, um zu erkennen, daß diese Vision nicht auf den Anis, sondern auf die bevorstehende Heimkehr zurückzuführen war.
    »Es wird wie Sterben sein«, sagte sie. Florentino Ariza war überrascht, denn sie hatte einen Gedanken erraten, der ihm seit Antritt der Rückreise das Leben schwermachte. Weder er noch sie konnten sich vorstellen, in einem anderen Haus als dem Schiff zu wohnen oder zu essen oder an einem Leben teilzuhaben, das ihnen immer fremd bleiben würde. Es war in der Tat wie Sterben. Er konnte nicht mehr einschlafen. Er lag auf dem Rücken, die Hände im Nacken verschränkt. Es kam ein Augenblick, da er sich vor Schmerz um América Vicuña qualvoll wand: Die Wahrheit war nicht länger aufzuschieben. Er schloß sich ins Bad ein und weinte hemmungslos und ohne Hast auch noch die letzte Träne. Erst dann hatte er den Mut, sich einzugestehen, wie sehr er sie geliebt hatte.
    Als sie aufgestanden waren und sich schon für die Ankunft angekleidet hatten, lagen die Wasserarme und Sümpfe der alten spanischen Fahrrinne hinter ihnen, der Dampfer zog zwischen Schiffswracks und den toten Öllachen der Bucht dahin. Über den goldenen Kuppeln der Stadt der Vizekönige stieg ein strahlender Donnerstag auf, doch von der Reling aus waren Fermina Daza der stinkende Ruhm der Stadt, der Hochmut ihrer von den Leguanen entweihten Bollwerke unerträglich: das Grauen des wirklichen Lebens. Sie sprachen es zwar nicht aus, doch beide fühlten, daß sie sich unmöglich so einfach geschlagen geben konnten.
    Sie trafen im Speiseraum den Kapitän in einem Zustand der Verwahrlosung, der seiner gewohnheitsmäßigen Akkuratesse widersprach: Er war unrasiert, hatte vor Müdigkeit blutunterlaufene Augen, verschwitzte Kleider von der Nacht, und er sprach mit schwerer Zunge zwischen Anisrülpsern. Zenaida schlief. Schweigend begannen sie zu frühstücken, als die Sanitätswache des Hafens mit einem Motorboot das Schiff stoppte. Von der Kommandobrücke aus beantwortete der Kapitän schreiend die Fragen der bewaffneten Patrouille. Man wollte wissen, welche Art von Pest sie an Bord hätten, die Zahl der Passagiere, wie viele davon krank seien und ob mit neuen Ansteckungsfällen zu rechnen sei. Der Kapitän erwiderte, sie hätten nur drei Passagiere an Bord, alles drei Cholerafälle, die jedoch streng isoliert untergebracht seien. Weder die Personen, die sich in La Dorada hätten einschiffen sollen, noch irgendeiner von den siebenundzwanzig Mann der Besatzung seien mit ihnen in Berührung gekommen. Der Kommandant der Patrouille war damit noch nicht zufrieden und gab ihnen den Befehl, das Hafenbecken zu verlassen und bis zwei Uhr mittags in der Bucht von Las Mercedes zu warten, bis alles veranlaßt sei, um das Schiff in Quarantäne zu legen. Der Kapitän stieß einen Fuhrmannsfluch aus und wies mit einem Handzeichen den Lotsen an, kehrtzumachen und zurück nach Las Monedes zu fahren.
    Fermina Daza und Florentino Ariza hatten vom Tisch aus alles gehört, doch das schien den Kapitän nicht zu kümmern. Er aß
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