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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Autoren: Gabriel García Márquez
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unsichtbaren Cholera und vor den kaschierten Kriegen, die mit ablenkenden Dekreten von den Regierungen heruntergespielt wurden. Inzwischen veranstalteten die Passagiere aus Langeweile Schwimmturniere, organisierten Jagdausflüge, von denen sie mit lebenden Leguanen zurückkamen, die sie aufschlitzten und mit Sacknadeln wieder zunähten, nachdem sie ihnen die weichen, durchscheinenden Eier herausgenommen hatten, die sie dann zum Trocknen auf Schnüre aufgereiht an der Reling aufhängten. Die ärmlichen Huren aus den Nachbardörfern folgten den Spuren der Expeditionen, schlugen improvisierte Zelte an der Uferböschung auf, schafften Musik und Wein heran und sorgten so vor dem festliegenden Schiff für Rummel.
    Schon lange bevor er Präsident der K. F. K. geworden war, hatte Florentino Ariza beunruhigende Berichte über den Zustand des Flusses bekommen, diese aber allenfalls überflogen. Seine Gesellschafter hatte er beruhigt: »Keine Sorge, wenn das Holz einmal zu Ende ist, gibt es längst Schiffe, die mit Erdöl fahren.« Benebelt von der Leidenschaft für Fermina Daza, hatte er sich nie die Mühe gemacht, ernsthaft darüber nachzudenken, und als er die Wahrheit zur Kenntnis nehmen mußte, war schon nichts mehr zu machen, es sei denn, man hätte einen neuen Fluß dorthin geleitet. Nachts mußte das Schiff selbst in Zeiten höheren Wasserstands vertäut werden, um schlafen zu können, und dann wurde sogar die schlichte Tatsache, lebendig zu sein, unerträglich. Die Mehrzahl der Passagiere, insbesondere die Europäer, verließen dann die zu Faulkammern gewordenen Kabinen und verbrachten die Nacht auf und ab laufend an Deck, verscheuchten Getier aller Art mit ihrem einzigen Handtuch, mit dem sie sich auch den unaufhörlich rinnenden Schweiß abwischten, und erreichten erschöpft und von Stichen verschwollen den Morgen. Ein englischer Reisender hatte zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts über diese damals mit Maultieren und Kanus durchgeführte Reise, die bis zu fünfzig Tage dauern konnte, geschrieben: »Dies ist eine der übelsten und beschwerlichsten Pilgerfahrten, die ein menschliches Wesen unternehmen kann.« Für die ersten achtzig Jahre Dampfschiffahrt war das nicht mehr zutreffend gewesen, dann aber erneut und für immer, als die Kaimane sich den letzten Schmetterling geschnappt hatten, die mütterlichen Seekühe und auch die Papageien, die Affen und die Dörfer ausgestorben waren: als alles ein Ende hatte. »Kein Problem«, lachte der Kapitän, »in ein paar Jahren werden wir mit Luxusautomobilen durch das trockene Flußbett fahren.«
    Fermina Daza und Florentino Ariza waren während der ersten drei Tage noch im sanften Frühling des geschlossenen Ausgucks geschützt gewesen, als dann aber das Brennholz rationiert wurde und das Kühlsystem ausfiel, verwandelte sich die Präsidentenkabine in einen Dampfkessel. Fermina Daza überstand die Nächte dank der Flußbrise, die durch die geöffneten Fenster drang, die Moskitos verscheuchte sie mit einem Handtuch, da das Zerstäuben von Insektengift keinen Sinn hatte, solange das Schiff festlag. Die Ohrenschmerzen waren unerträglich geworden, bis sie eines Morgens, als Fermina Daza aufwachte, plötzlich, wie der Gesang einer zertretenen Zikade, ganz aufhörten. Erst am Abend, als ihr Florentino Ariza etwas erzählte und sie den Kopf wenden mußte, um ihn zu verstehen, kam sie darauf, daß sie auf dem linken Ohr nicht mehr hörte. Sie erzählte niemand davon und hielt es resigniert für einen der vielen unabänderlichen Mängel des Alters.
    Trotz allem war für sie beide der Aufenthalt des Schiffes ein glücklicher Zwischenfall. Florentino Ariza hatte irgendwo einmal gelesen: »Die Liebe gewinnt im Unglück an Größe und Edelmut.« Die Schwüle der Präsidentenkabine tauchte sie in eine wirklichkeitsfremde Lethargie, in der es leichter war, sich ohne Fragen zu lieben. Sie verbrachten unvorstellbar lange Stunden in den Sesseln vor der Brüstung, hielten sich an den Händen, küßten sich bedächtig und genossen ungestört von drängendem Verlangen die trunkene Zärtlichkeit. In der dritten drückendheißen Nacht wartete sie mit einer Flasche Anisschnaps auf ihn, den sie schon heimlich mit der Mädchenbande der Kusine Hildebranda getrunken hatte, und auch später, als sie bereits Mann und Kinder hatte und sich mit den Freundinnen aus ihrer geborgten Welt einschloß. Sie brauchte ein wenig Betäubung, um nicht allzu klar über ihr Schicksal nachzudenken. Florentino Ariza
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