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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Autoren: Gabriel García Márquez
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seinen Fingern zu vermehren schienen. Einen Augenblick lang sah der Hafendamm aus, als sei er mit Küken überzogen, sie piepten überall zwischen den eiligen Reisenden herum, die über sie hinwegtrampelten, ohne sie zu hören. Fasziniert von diesem wunderbaren Spektakel, das ihr zu Ehren aufgeführt zu werden schien, da nur sie es betrachtete, hatte Fermina Daza nicht bemerkt, daß irgendwann die Passagiere für die Rückreise begonnen hatten, an Bord zu gehen. Da hörte der Spaß für sie auf: Unter den Neuankömmlingen sah sie viele bekannte Gesichter, einige Freunde, die ihr noch bis vor kurzem in ihrer Trauer beigestanden hatten, und sie flüchtete sich eilends wieder in ihre Kabine. Dort fand Florentino Ariza sie, sie war verstört und wäre lieber gestorben, als von ihren Leuten so kurz nach dem Tode ihres Mannes bei einer Vergnügungsreise ertappt zu werden. Ihre Niedergeschlagenheit bedrückte ihn so sehr, daß er versprach, sich etwas anderes als die Kabinenhaft zu ihrem Schutz einfallen zu lassen.
    Die Idee kam ihm plötzlich beim Abendessen in der Kapitänsmesse. Den Kapitän beschäftigte ein Problem, das er schon seit geraumer Zeit mit Florentino Ariza hatte besprechen wollen, dieser war ihm jedoch mit seinem üblichen Argument immer wieder ausgewichen: »Solche Geschichten regelt Leona Cassiani besser als ich.« Diesmal aber hörte er dem Kapitän zu. Es ging darum, daß die Schiffe flußaufwärts Fracht geladen hatten, flußabwärts jedoch leer fuhren, sah man einmal von den dann zahlreicheren Passagieren ab: »Wobei die Fracht den Vorteil hat, daß sie mehr einbringt und nichts verzehrt«, sagte der Kapitän. Fermina Daza aß lustlos, sie langweilte sich bei dem hitzigen Gespräch der beiden Männer über die Vorteile von differenzierten Tarifen. Doch Florentino Ariza führte die Diskussion zu Ende und schoß erst dann eine Frage ab, die der Kapitän für die Ankündigung eines rettenden Gedankens hielt: »Mal rein hypothetisch gesprochen«, sagte er, »wäre es denn denkbar, eine direkte Fahrt zu machen, ohne Fracht, ohne Passagiere, ohne einen Hafen anzulaufen, ohne alles?« Der Kapitän erwiderte, dies sei nur hypothetisch möglich. Die K. F. K. habe Arbeitsverträge, die niemand besser kenne als Florentino Ariza, sei verpflichtet, Fracht, Passagiere, Post und vieles mehr zu befördern, und die meisten dieser Verträge seien nicht zu umgehen. Über all das könne man sich nur hinwegsetzen, wenn ein Pestfall an Bord sei. Dann werde das Schiff nämlich mit Quarantäne belegt, die gelbe Fahne aufgezogen, und es herrsche der Ausnahmezustand. Kapitän Samaritano hatte das mehrfach wegen der vielen Cholerafälle im Flußgebiet durchexerzieren müssen, wenn auch später die Sanitätsbehörde die Ärzte dazu gezwungen hatte, Atteste über einfache Dysenterie auszustellen. Übrigens sei die gelbe Pestflagge in der Geschichte des Flusses auch oft gehißt worden, um Steuern zu entgehen, einen unerwünschten Gast nicht aufnehmen zu müssen oder unliebsame Kontrollen zu vermeiden. Florentino Ariza fand unter dem Tisch Fermina Dazas Hand. »Also gut«, sagte er. »Machen wir das.« Der Kapitän war überrascht, durchschaute dann aber alles mit dem Instinkt eines alten Fuchses.
    »Ich befehle auf diesem Schiff, aber wir stehen unter Ihrem Befehl«, sagte er. »Falls Sie es also ernst meinen, geben Sie mir die Order schriftlich, und wir machen uns sofort auf den Weg.«
    Selbstverständlich war es ernstgemeint, und Florentino Ariza unterschrieb die Order. Schließlich wußte jeder, daß trotz der frohgemuten Aufstellungen der Sanitätsbehörde die Zeiten der Cholera keineswegs vorbei waren. Was nun das Schiff betraf, so gab es kein Problem. Die wenige Fracht wurde umgeladen, und die Passagiere schickte man mit dem Hinweis auf einen Maschinenschaden früh morgens auf den Dampfer einer anderen Linie. Wenn solche Tricks aus so vielen unmoralischen und sogar unwürdigen Gründen angewandt wurden, sah Florentino Ariza nicht ein, warum es nicht erlaubt sein sollte, sie aus Liebe zu gebrauchen. Der Kapitän bat nur noch um einen Halt in Puerto Nare, um dort eine Person an Bord zu nehmen, die ihn auf der Reise begleiten sollte: Auch er hatte insgeheim ein Herz. Also legte die Nueva Fidelidad im Morgengrauen des nächsten Tages ab, ohne Fracht und Passagiere, aber mit der gelben Choleraflagge, die fröhlich am Hauptmast flatterte. Gegen Abend nahmen sie in Puerto Nare eine Frau an Bord, die größer und robuster war als
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