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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Autoren: Gabriel García Márquez
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schweigend weiter, und seine schlechte Laune war schon daran zu erkennen, wie er sich über die Gesetze der Höflichkeit hinwegsetzte, auf denen der legendäre Ruf der Flußkapitäne gründete. Mit der Messerspitze stach er die vier Spiegeleier auf und verschmierte sie über den aufgeschnittenen grünen Bananen, die er sich scheibenweise in den Mund stopfte und mit wildem Vergnügen kaute. Fermina Daza und Florentino Ariza sahen ihm zu, ohne zu sprechen, sie saßen da wie auf der Schulbank und warteten auf die Bekanntgabe der Abschlußnoten. Sie hatten während der Auseinandersetzung mit der Sanitätsbehörde kein Wort miteinander gewechselt und auch nicht die geringste Ahnung, was aus ihrer beider Leben werden sollte, wußten aber, daß der Kapitän sich für sie den Kopf zerbrach: Man sah es an den pochenden Schläfen. Während er die Portion Spiegeleier und die ganze Platte Bananen verputzte und auch die Kanne Milchkaffee leerte, lief das Schiff mit gedrosselter Maschine aus der Bucht, bahnte sich in den Wasserarmen einen Weg durch treibenden Tang und Lotuspflanzen mit violetten Blüten und großen herzförmigen Blättern und kehrte in die Lagunen zurück. Das Wasser war von changierendem Glanz wegen all der Fische, die auf der Seite liegend an der Oberfläche trieben, Opfer des Dynamits beim illegalen Fischen, und die Vögel vom Lande und vom Wasser kreisten mit metallischen Schreien darüber. Der Wind von der Karibischen See drang mit dem Lärm der Vögel durch die Fenster, und Fermina Daza spürte das unregelmäßige Pochen ihres freien Willens im Blut. Zu ihrer Rechten erstreckte sich trübe und bedächtig die breite Mündung des Rio Grande de la Magdalena bis ans andere Ende der Welt.
    Als nichts Eßbares mehr auf den Tellern war, wischte sich der Kapitän mit einem Tischtuchzipfel den Mund ab und begann in einem so vulgären Jargon zu reden, daß das Prestige von der gewählten Ausdrucksweise der Flußkapitäne endgültig zerstört war. Denn er sprach nicht für sie, noch für sonst jemanden, er versuchte, mit seiner eigenen Wut ins reine zu kommen. Die Schlußfolgerung seiner Schimpfkanonade war, daß er keinen Weg aus dem Schlamassel wußte, in den er sich mit der Choleraflagge gebracht hatte. Florentino Ariza hörte ihm zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann schaute er durch die Fenster in alle vier Himmelsrichtungen der Windrose, auf die klare Linie des Horizonts, den wolkenlosen Dezemberhimmel, auf die ewig schiffbaren Wasser und sagte:
    »Wir fahren geradeaus, immer weiter geradeaus, zurück nach La Dorada.«
    Fermina Daza erschauerte, denn sie hatte die alte, von der Gnade des Heiligen Geistes erleuchtete Stimme erkannt; sie sah auf den Kapitän: Er war das Schicksal. Doch der Kapitän sah sie nicht, denn er war gebannt von Florentino Ariza, von der ungeheuerlichen Kraft seiner Inspiration. »Meinen Sie das im Ernst?« fragte er. »Seit meiner Geburt habe ich kein einziges Mal etwas gesagt, was nicht im Ernst gemeint gewesen wäre«, erwiderte Florentino Ariza.
    Der Kapitän sah Fermina Daza an und entdeckte auf ihren Wimpern das erste Glitzern winterlichen Reifs. Dann schaute er Florentino Ariza an, sah seine unerschrockene Liebe und erschrak über den späten Verdacht, daß nicht so sehr der Tod, vielmehr das Leben keine Grenzen kennt. »Und was glauben Sie, wie lange wir dieses Scheiß-Hin und -Zurück durchhalten können?«
    Florentino Ariza war seit dreiundfünfzig Jahren, sieben Monaten und elf Tagen und Nächten auf die Frage vorbereitet: »Das ganze Leben«, sagte er.
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