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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Autoren: Gabriel García Márquez
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andere Wange bot. Er insistierte ein zweites Mal, und sie empfing ihn mit den Lippen, empfing ihn mit einem untergründigen Beben, das ein seit ihrer Hochzeitsnacht vergessenes Lachen ersticken sollte.
    »Mein Gott«, rief sie aus, »was bin ich auf Schiffen verrückt.«
    Florentino Ariza erschauerte: In der Tat, wie sie selbst gesagt hatte, verströmte sie den säuerlichen Geruch des Alters. Während er sich dann den Weg zurück zu seiner Kabine durch das Labyrinth der Schlafenden in ihren Hängematten bahnte, tröstete er sich mit dem Gedanken, daß er den gleichen Geruch hatte, vier Jahre älter, und sie diesen mit der gleichen Empfindung wahrgenommen haben mußte. Es war der Geruch menschlicher Zersetzung, den er an seinen ältesten Geliebten - und diese an ihm - bemerkt hatte. Die Witwe Nazaret, die nichts für sich behielt, hatte es ihm auf krudere Weise gesagt: »Wir stinken schon nach Geier.« Der eine ertrug es beim anderen, denn sie waren quitt: mein Geruch gegen deinen. Vor América Vicuña war er hingegen auf der Hut gewesen. Ihr Windelgeruch hatte mütterliche Instinkte in ihm geweckt, aber der Gedanke hatte ihn beunruhigt, daß ihr sein Geruch unerträglich sein könnte: der Gestank nach altem Bock. Aber das alles gehörte der Vergangenheit an. Wichtig war allein, daß Florentino Ariza zum ersten Mal seit jenem Nachmittag, als die Tante Escolástica das Gebetbuch am Schalter der Telegraphenstation liegengelassen hatte, in dieser Nacht wieder ein solches Glück empfand; es war so intensiv, daß es ihm Angst machte. Er war dabei einzuschlafen, als der Zahlmeister des Schiffs ihn um fünf Uhr auf Höhe des Hafens Zambrano aufweckte, um ihm ein dringendes Telegramm zu übergeben. Es war am Tag zuvor mit Leona Cassianis Unterschrift aufgegeben worden, und alles Entsetzen paßte in eine Zeile: América Vicuña gestern aus unerklärlichen Gründen gestorben. Einzelheiten erfuhr er um elf Uhr vormittags von Leona Cassiani in einer telegraphischen Kettenschaltung, bei der er selbst den Morseapparat bediente, was er seit seinen Tagen als Telegraphist nicht mehr getan hatte. América Vicuña hatte in einer tödlichen Depression wegen ihres Scheiterns bei den Abschlußexamina eine Flasche Opiumtinktur ausgetrunken, die sie aus dem Krankenzimmer der Schule entwendet hatte. Im Grunde seiner Seele wußte Florentino Ariza, daß die Nachricht unvollständig war. Aber nein: América Vicuña hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen, der erlaubt hätte, jemand für ihren Entschluß verantwortlich zu machen. Die Familie war schon aus Puerto Padre unterwegs, und die Beerdigung sollte nachmittags um fünf stattfinden. Florentino Ariza atmete tief durch. Alles, was er tun konnte, wenn er weiterleben wollte, war, sich diese quälende Erinnerung nicht zu erlauben. Er löschte sie aus seinem Gedächtnis, in seinen letzten Jahren lebte sie jedoch zuweilen plötzlich grundlos wieder auf, ein kurzer, stechender Schmerz wie von einer alten Narbe. Die folgenden Tage waren heiß und endlos. Der Fluß wurde trübe und immer schmaler, und statt des Dickichts aus kolossalen Bäumen, über das Florentino Ariza auf seiner ersten Reise gestaunt hatte, lagen nun verbrannte Steppen mit dem Abfall ganzer Wälder da, die von den Schiffskesseln verschlungen worden waren, Trümmer von gottverlassenen Dörfern, deren Straßen auch in den grausamsten Dürreperioden noch unter Wasser standen. Nachts wurden die beiden nicht vom Sirenengesang der Seekühe auf den Sandbänken, sondern vom widerlichen Gestank der Toten geweckt, die dem Meer entgegentrieben. Es gab zwar keine Kriege mehr und keine Pest, doch man sah immer noch die aufgedunsenen Leichen vorbeitreiben. Der Kapitän erläuterte ungewohnt nüchtern: »Wir haben Anweisung, den Passagieren zu sagen, daß es sich um zufällig Ertrunkene handelt.« An Stelle des Papageiengekreischs und des Lärms der unsichtbaren Affen, die einst die Mittagsglut noch anzufachen schienen, herrschte jetzt das ausgedehnte Schweigen der geschleiften Erde.
    Es gab nur noch so wenige Stellen, an denen man Holz schlagen konnte, und sie lagen so weit auseinander, daß der Nueva Fidelidad am vierten Reisetag der Brennstoff ausging. Fast eine Woche lang lag der Dampfer vertäut da, während sich Suchtrupps durch Aschesümpfe arbeiteten, um letzte versprengte Bäume aufzutreiben. Andere gab es nicht mehr: Die Holzfäller hatten ihre Lager verlassen, sie waren vor den Grausamkeiten der Grundbesitzer geflüchtet, vor der
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