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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Autoren: Gabriel García Márquez
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künstlich kühlgehaltenen Ausguck noch zu spüren war. Als aber das Schiff wieder Fahrt machte, ging ein Wind, der nach tiefstem Urwald roch, und auch die Musik wurde fröhlicher. In der Siedlung Sitio Nuevo leuchteten in einem einzigen Haus, in einem einzigen Fenster ein einziges Licht, und da im Hafenbüro nicht das vereinbarte Signal gegeben wurde, daß Fracht oder Passagiere mitgenommen werden sollten, fuhr der Dampfer ohne Sirenenzeichen daran vorbei. Fermina Daza hatte sich den ganzen Nachmittag über gefragt, was sich Florentino Ariza wohl einfallen lassen würde, um sie zu sehen, ohne bei ihr an die Kabinentür klopfen zu müssen, und gegen acht Uhr hatte sie ein solches Verlangen, mit ihm zusammen zu sein, daß sie es nicht länger aushielt. In der Hoffnung, ihm zufällig zu begegnen, ging sie auf den Gang hinaus und mußte nicht weit gehen. Florentino Ariza saß dort auf einer Bank, still und traurig wie im kleinen Parque de los Evangelios, und hatte schon seit zwei Stunden darüber gegrübelt, was er nur tun könnte, um sie zu sehen. Beide machten die gleiche überraschte Gebärde, die beide als unecht erkannten, und wandelten dann gemeinsam über das Erste-Klasse-Deck, auf dem sich die jungen Leute drängten, vor allem fröhlich lärmende Studenten, die das letzte Ferienvergnügen geradezu gierig auslebten. In der Bar tranken die beiden, wie die Studenten am Tresen sitzend, ein Erfrischungsgetränk in Flaschen, und sie erkannte sich plötzlich in einer Situation, die ihr Angst machte. »Wie entsetzlich«, sagte sie, und Florentino Ariza fragte, was sie so sehr beeindrucke, an was sie denke.
    »An die armen alten Leutchen«, sagte sie. »Die, die mit dem Ruder erschlagen worden sind.«
    Nach einer langen ungetrübten Unterhaltung im dunklen Ausguck gingen beide, als die Musik aufhörte, schlafen. Es gab keinen Mond, der Himmel war bedeckt und am Horizont ein Wetterleuchten, das sie für Augenblicke in Licht tauchte. Florentino Ariza drehte ihr die Zigaretten, aber sie rauchte nicht mehr als vier davon, so sehr quälte sie der Schmerz, der momentweise nachließ, um dann wieder heftiger zu werden, wenn das Schiff bei der Begegnung mit einem anderen aufheulte oder wenn sie ein verschlafenes Dorf passierten oder .wenn der Kapitän die Fahrt drosselte, um die Wassertiefe auszuloten. Florentino Ariza sagte ihr, mit wieviel Sehnsucht er sie immer bei den Blumenspielen beobachtet habe, bei der Ballonfahrt, auf dem Akrobaten-Hochrad, und wie sehnsüchtig er das ganze Jahr über auf offizielle Feiern gewartet habe, nur um sie zu sehen. Sie dagegen hatte sich vor knapp einem Jahr beim Lesen seiner Briefe gefragt, wie es möglich sei, daß er nie an den Blumenspielen teilgenommen hatte: er hätte sie zweifellos gewonnen. Florentino Ariza log: Er schreibe nur für sie, schreibe Gedichte für sie, die nur er lese. Nun war sie es, die in der Dunkelheit seine Hand suchte, und er hatte sie nicht erwartet, wie sie in der vergangenen Nacht die seine, sondern wurde von ihr überrascht. Ihm gefror das Herz. »Wie seltsam doch die Frauen sind«, sagte er. Sie lachte auf, das tiefe Gurren einer jungen Taube, und mußte dann wieder an die Greise auf dem Boot denken. Es war schicksalhaft: Dieses Bild sollte sie immer verfolgen. In jener Nacht aber könnte sie es ertragen, denn sie fühlte sich ruhig und wohl wie selten in ihrem Leben: frei von jeder Schuld. So hätte sie bis zum Morgengrauen sitzenbleiben können, schweigend, seine eisschwitzende Hand in der ihren, aber die Qual der Ohrenschmerzen wurde unerträglich. Als daher die Musik verstummte und der Lärm der Zwischendeckpassagiere, die ihre Hängematten im Salon befestigten, aufhörte, sah sie ein, daß der Schmerz stärker war als ihr Wunsch, mit ihm zusammen zu sein. Schon darüber zu sprechen, hätte ihr Erleichterung verschafft, das wußte sie, sie tat es jedoch nicht, um ihn nicht zu beunruhigen. Denn zu diesem Zeitpunkt glaubte sie ihn schon so gut zu kennen, als hätte sie das ganze Leben mit ihm verbracht, und sie traute ihm zu, das Schiff zurück in den Hafen zu beordern, wenn sie das von den Schmerzen befreit hätte. Florentino Ariza hatte vorausgesehen, daß diese Nacht so ablaufen würde, und zog sich zurück. Als er schon an der Kabinentür stand, versuchte er, sie zum Abschied zu küssen, doch sie hielt ihm ihre linke Wange hin. Bereits schwer atmend, insistierte er, worauf sie ihm mit einer Koketterie, die er an dem Schulmädchen nicht gekannt hatte, die
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