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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Autoren: Gabriel García Márquez
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Zärtlichkeiten herauszufordern, eine sanfte Kätzin, die ihre Grausamkeit auskostet, bis er die Folter nicht länger aushalten konnte und in seine Kabine ging. Sie dachte noch bis zum Morgengrauen an ihn, glaubte endlich an die eigene Liebe, und während der Anis allmählich verebbte, überkam sie mehr und mehr die schmerzliche Unruhe, daß Florentino Ariza verärgert sein und nie wieder kommen könnte.
    Doch er kam noch am gleichen Tag, zu ungewöhnlicher Morgenstunde, um elf Uhr, frisch und wiederhergestellt, und zog sich demonstrativ vor ihr aus. Sie war erfreut, ihn bei Licht so zu sehen, wie sie sich ihn im Dunkeln vorgestellt hatte: ein altersloser Mann mit einer dunklen Haut, die glänzend und straff wie ein aufgespannter Regenschirm war, unbehaart außer dem spärlichen glatten Flaum in den Achseln und am Unterleib. Er hatte das Gewehr präsentiert, und sie merkte, daß er es nicht zufällig sehen ließ, sondern wie eine Kriegstrophäe zeigte, um sich selbst Mut zu machen. Er ließ ihr nicht einmal Zeit, das Nachthemd auszuziehen, das. sie beim Aufkommen der Morgenbrise übergestreift hatte, und angesichts dieser Hast eines Anfängers überflutete sie Mitleid. Aber das störte sie nicht, weil ihr stets bei solchen Gelegenheiten schwerfiel, Mitleid und Liebe auseinanderzuhalten. Am Ende fühlte sie sich leer.
    Seit über zwanzig Jahren war es das erste Mal, daß sie mit einem Mann schlief, sie war voller Neugier gewesen, wie das in ihrem Alter und nach einer so langen Pause wohl sein könnte. Er aber hatte ihr keine Zeit gelassen, um erfahren zu können, ob auch ihr Körper ihn begehrte. Es war schnell und trist passiert, und sie dachte: »Jetzt haben wir alles verdorben.« Doch sie irrte sich: Trotz beider Ernüchterung, obwohl er seine Tölpelhaftigkeit bereute und sie sich Vorwürfe wegen ihres anisseligen Übermuts machte, trennten sie sich in den folgenden Tagen keinen Augenblick. Kapitän Samaritano, der instinktiv jedes Geheimnis, das auf seinem Schiff unentdeckt bleiben sollte, aufspürte, ließ ihnen jeden Morgen die weiße Rose bringen, ließ ihnen ein Ständchen mit Walzern ihrer Zeit vortragen und verrückte Gerichte mit aufmunternden Ingredienzien zubereiten. In der Liebe versuchten sie sich erst wieder sehr viel später, als die Stimmung sie überkam, ohne daß sie diese hätten heraufbeschwören müssen. Jetzt hatten sie genug an der einfachen Seligkeit, zusammenzusein.
    Auf den Gedanken, die Kabine zu verlassen, wären sie gar nicht gekommen, hätte der Kapitän ihnen nicht schriftlich angekündigt, daß sie nach dem Mittagessen, nach elf Tagen Fahrt, La Dorada erreichen würden. Fermina Daza und Florentino Ariza sahen von der Kabine aus das Vorgebirge der von einer bleichen Sonne beleuchteten Häuser und glaubten zu verstehen, warum diese Stadt die Goldene genannt wurde, was ihnen dann aber wieder weniger einleuchtend erschien, als sie die wie ein Dampfkessel ächzende Hitze spürten und auf den Straßen den Teer kochen sahen. Im übrigen machte der Dampfer nicht vor der Stadt, sondern am gegenüberliegenden Ufer fest, wo sich die Endstation der Santa-Fe-Eisenbahn befand.
    Sie verließen ihr Refugium, sobald die Passagiere von Bord gegangen waren. Fermina Daza atmete im leeren Salon die gute Luft der Nichtbelangbarkeit, und beide beobachteten von der Reling aus die aufgeregte Menschenmenge, die vor den Waggons eines Zuges, der wie eine Spielzeugeisenbahn aussah, ihr Gepäck zusammensuchte. Man hätte denken können, daß sie aus Europa kamen, besonders die Frauen, deren nordische Mäntel und Hüte aus dem vorigen Jahrhundert in der staubigen Glut aberwitzig wirkten. Einige hatten das Haar mit wunderschönen Kartoffelblumen geschmückt, die jetzt in der Hitze ermatteten. All diese Menschen waren gerade aus der Andenhochebene eingetroffen, nach einer eintägigen Zugreise über eine verwunschene Savanne, und hatten noch keine Zeit gehabt, sich für die Karibik umzuziehen.
    Inmitten dieses Marktgetümmels stand ein sehr alter, trostlos aussehender Mann, der aus den Taschen seines Bettlermantels Küken hervorholte. Er war plötzlich in diesem zerlumpten Mantel aufgetaucht, der jemand sehr viel größerem und korpulenterem gehört haben mußte, und hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt. Er nahm den Hut ab, legte ihn für den Fall, daß jemand eine Münze hineinwerfen wollte, offen auf den Hafendamm und holte dann aus den Taschen Hände voller weicher farbloser Küken, die sich zwischen
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