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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite
Autoren: Hans Gruhl
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sie
weiterbrütet, ohne es zu merken. Aber in diesem Falle glaube ich mehr an einen
Interessenten.«
    Langsam leerten sich die Teller. Wir
sprachen noch über ein paar andere Sachen und über meinen Röntgenbetrieb.
Bierstein und die Stagg gingen bald. Pinkus schaffte es noch, mich zu einem
Bier dazubehalten. Dann wurde ich fürchterlich müde und ließ ihn allein mit
seiner Flasche zurück.
    Langsam stieg ich die Treppen hinauf zu
meiner Bude. Es war fast ganz dunkel. Ich ließ noch einen Schwall Sommerluft
herein, bis etliche Mücken mitzogen und sich um die Lampe versammelten. Ich
jagte sie einzeln, erzielte einige Abschüsse und wusch mich dann. Eine Weile
lag ich noch wach in dem knisternden, steifen Leinen und dachte an den ersten
Tag mit allen Leuten, die ich kennengelernt hatte. Ausgerechnet bei meinem
Erscheinen mußte Morphium verschwinden. Hoffentlich kein schlechtes Zeichen.
     
     
    Am nächsten Morgen machte ich die
Hauptvisite mit und wanderte brav hinter dem Oberarzt und den beiden anderen
durch die Stationen, schüttelte viele Schwesternhändchen, sah noch mehr
Patienten und mußte unzählige Röntgenbilder durch gucken.
    Am Schluß kamen wir zu dem Mann mit der
Hirnhautentzündung. Er lag allein in einem ruhigen Zimmer. Doktor Walter
Bergius, dreiundfünfzig, ziemlich schweigsam und blaß. Es ging ihm
einigermaßen, aber ich hatte das Gefühl, daß er noch nicht über den Berg war,
und er schien es zu wissen. Bierstein sprach ruhig und zuversichtlich mit ihm.
Währenddessen studierte die Stagg seine Krankengeschichte, als wollte sie sie
auswendig lernen. Ich sah mir die Röntgenbilder an. Es hatte vor vier Monaten
eine frische Streuung gegeben, und da war die Hirnhaut mit angegangen.
    »Hm, hm«, machte Bierstein, als wir
draußen waren. »Wäre dumm, wenn er jetzt noch abrutschte. Machen wir genauso
weiter, wie sie es drin angefangen haben. Wenn Ihnen was auffällt, Pinkus,
geben Sie Alarm.«
    Pinkus nickte. Wir trennten uns, und
ich ging zu Petra in die Röntgenabteilung. Sie hielt mir die Brille hin. »Sechs
Kontrolldurchleuchtungen, Onkel Doktor. Aufnahmen habe ich schon gemacht.«
    »Hoffentlich hervorragende«, sagte ich
matt und ließ mich auf einen Schemel fallen, »mein Weg ist eingesäumt von
Leichenbergen erwürgter Röntgenassistentinnen, die schlechte Aufnahmen
geliefert haben. Außerdem tun mir die Beene weh. Gestern der Marsch durch die
Wüste, dann der Turm, heute die Visite. Ein Röntgenologe als Infanterist.«
    »Es ist eine Schande«, sagte Petra. Ich
setzte die Brille auf und sah sie nun in Blauviolett um mich herumschweben. Das
Mädchen hatte Bewegungen, die einen munter machten. Nach einer Weile zog ich
mich in den finsteren Durchleuchtungsraum zurück.
    Als ich mit den sechs Brustkörben
fertig war und die Befunde diktiert hatte, war es Zeit zum Mittagessen. Es gab
Eier, Spinat und Kartoffeln. Eier so viele, wie man wollte. Wir nutzten das
weidlich aus.
    »Morphium aufgefunden?« fragte Fräulein
von Stagg.
    Bierstein schüttelte das quadratische
Haupt.
    »Nee. Habe selber noch mal nachgesehen.
Eine Schachtel hat sich von dannen gemacht. Vielleicht sind es keine sechzehn
gewesen, aber nach unserem Buch und dem Verbrauch waren es so viel.«
    »Und Anna fahndet immer noch?«
    »Ja. Sie hat sogar einen Verdacht. Aber
sie wollte nicht rausrücken damit, bis sie den Täter eigenhändig überführt
hätte.«
    »Kommissar Anna Maigret«, murmelte
Pinkus. »Sie kann es nicht lassen. Ich fühle förmlich ihre Hand an meinem
Kragen. Ha — Doktor — ich brauche eine Spritze!«
    Er rollte die Augen und zertrümmerte
ein Ei mit der Gabel.
    Bierstein blickte mitleidig auf ihn und
winkte ab.
    »Der wird keen Morphiniste. Dem genügt
der Schnaps.«
    Fräulein von Stagg kicherte glucksend.
    Nach dem Essen fand ich, daß ich zum
Spazierengehen zu müde war. Ich schlief anderthalb Stunden fest auf meinem
Bett, ging anschließend leicht vertrant zu Petra, um die Aufnahmen des
Vormittags zu diktieren. Petra war frisch wie ein Kleefeld.
    »Gott, sieht er zerknittert aus«, sagte
sie.
    »Sie sind niemals müde, wie?«
    »Doch, Herr Doktor. In der Nacht.«
    »Immer?«
    »Immer nicht.«
    Ich glotzte auf die Aufnahmen am
Leuchtschirm und murmelte meine Eindrücke vor mich hin. Es nahm kein Ende.
Petra bewies Engelsgeduld. Als wir fertig waren, fragte ich sie, ob sie heute
wieder den Turm besuchen würde.
    Leider würde sie nicht.
    »Ich hab’ Briefschulden. Schlechtes
Gewissen. Ich muß endlich
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