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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite
Autoren: Hans Gruhl
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Glasluke.
    Die Sache wurde mir klar. Das Ganze war
eine Pumpanlage, wahrscheinlich mit einem Wasserspeicher im Steinsockel, und
den Turm hatte der Architekt noch obendrauf gesetzt, um den Anblick zu
verbessern und seine Gebühren zu erhöhen.
    Ich verließ die Kammer, schloß die Tür,
hängte das Schloß wieder vor den Riegel und setzte die Wanderung fort, bis ich
die Steintreppe erreichte. Die Stufen waren leicht ausgetreten und flach.
Kleine Grasbüschel wuchsen aus den Mauerritzen, und Zweige und vertrocknete
Blätter lagen herum.
    Die obere Plattform war von einer
halbhohen Mauer umgeben.
    Ich ging einmal um den Turm herum, fand
die Glasluke wieder und sah noch drei andere Luken. Alle vier lagen sich über
Kreuz gegenüber. Ich hob eine an. Ein feuchter Hauch schlug mir entgegen. Nach
einer Weile konnte ich in der Tiefe den Wasserspiegel erkennen, ziemlich
tintenschwarz und tückisch. Peinlich für den, der da reinfiel. Also doch ein
Wasserspeicher. Befriedigt über meine kombinatorischen Fähigkeiten schloß ich
den Deckel.
    »Und nun zu dir, Turm«, murmelte ich
und zog den Kopf ein, als ich mich unter dem Spitzenbogen durchzwängte. Der
Einlaß hatte die Form der Fenster, eine Tür war nicht da. Eine recht
romantische Wendeltreppe führte nach oben, ich kam an den kleinen Fenstern vorbei
und warf durch jedes einen Blick in die Sommerlandschaft. Viele Spinnweben
spannten sich zart über die Winkel. Die Treppe endete sehr plötzlich in einer
rechteckigen Öffnung. Ich erklomm die letzten Stufen und stand inmitten des
Zinnenkranzes, den ich von ferne schweißüberströmt und sehnsüchtig betrachtet
hatte.
    Die Aussicht war beachtlich. Nichts
stand mehr im Wege. Ich sah das Haus, die Liegehalle, Park, Rasen, Wege und
Leute. Man konnte den Verlauf der Mauer verfolgen, die das Gelände umgab. Sogar
das Dorf mit dem Bahnhof konnte ich erkennen und den Weg, auf dem ich so viel
Staub zu mir genommen hatte.
    In diesem Augenblick dachte ich an das
Mädchen, das vor mir hergegangen war. Schade, daß...
    Ich fühlte, wie meine Augen groß und
rund wurden und herauszufallen drohten. Ich stützte die Hände auf die rauhen
Zinnen und machte erst nach einer Weile den Mund wieder zu. Zwischen den
Stämmen am Rand der Lichtung erschien ein gelbes Leinenkleid mit
hochgekrempelten Ärmeln. Darin steckte das Mädchen mit dem braunen Haar und den
Sandalen. Sie kam auf den Sockel zu, warf den Kopf nach oben und sah mich
zwischen den Zinnen, aber das schien sie so wenig zu erstaunen wie das
Sonnenlicht um sie herum. Ich hörte ihre Schritte auf dem Kies, auf der Treppe,
auf der Plattform, im Turm. Sie kam ganz gemächlich nach oben. Ich drehte mich
um. In der Öffnung erschien der braune Schopf mit etwas wirrem Haar, nicht
ausgesprochen schmalen Schultern und nicht eben wenig unter dem Ausschnitt des
gelben Kleidchens. Ich wollte die Augen schließen, es gelang mir nicht. Dann
stand sie in voller Länge vor mir. Auch das war nicht wenig. Sie reichte mir an
die Nasenspitze, und ich bin einsachtundachtzig, die Bandscheibenschrumpfung
schon abgezogen. Sie war so wenig hübsch, daß sie beinahe schon wieder schön
war, und in ihrem Gesicht saß eine verhaltene, fröhliche Frechheit, die mich
mit Wonne erfüllte.
    »Starren Sie nur weiter!«
    Ihre Stimme war rauh und etwas nasal,
wie die einer erkälteten Ansagerin auf dem Fernsehschirm.
    »Langsam, langsam«, sagte ich. »Ich
hatte heute mittag zwanzig Minuten lang Zeit, mir Ihre Rückseite einzuprägen.
Es würde mich nicht wundern, wenn ich für die Vorderfront das Doppelte
brauche.«
    »Mich aber. Sie sind Doktor Bold, nicht
wahr?«
    »Jawohl. Ich wäre auch lieber Aga Khan.
Von wannen wissen Sie?«
    »Ich hab’ unten gehört, daß Sie
angekommen sind, und hab’ Sie dann zum Turm gehen sehen. Ich bin die
Röntgenassistentin. Petra Rediess. Sagen Sie gleich Radieschen. Ich kenne es
nicht anders.«
    »Petra ist schöner.« Sie drückte meine
Finger zusammen. »Ich habe auch manchen Ärger mit dem Bold. Eigentlich hätte
ich Sie in der Röntgenabteilung besuchen sollen, aber der Turm war mir lieber.«
    Sie lehnte sich neben mich an die
Zinnen.
    »Ich gehe oft rauf. Mir gefällt er.«
    »Mir auch. Habe ihn auf Anhieb als
Wasserspeicher erkannt. War sogar im Pumpenraum, ohne mich zu fürchten.«
    »Da gibt es nichts zu fürchten«, sagte
sie. »Nur manchmal fällt das Ding aus, und das Wasser ist weg. Es soll sich
einschalten, wenn der Druck nachläßt.«
    »Aha«, machte ich. »Wir sind
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