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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite
Autoren: Hans Gruhl
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sehen wir zunächst weiter.
Wenn sich alles so verhielt, wie ich es Ihnen schilderte, dann drohte die
letzte Gefahr von Doktor Bold. Sie wollten ganz sichergehen. Lieber ein Mord
mehr, als das kleinste Verdachtsmoment. Ich nehme an, Sie haben hinter Ihrem
Fenster gewartet, und Sie waren doch etwas erschrocken, als Sie plötzlich
Doktor Bold und Fräulein Rediess vom Turm herunterkommen sahen. Er war naß,
aber er lebte. Das war peinlich. In der Nacht hat jemand versucht, in Doktor
Bolds Zimmer einzudringen. Er hatte abgeschlossen. Wollen Sie mir verraten, auf
welche Weise Sie ihn diesmal umbringen wollten?«
    Edeltraud warf den Kopf zurück.
    »Ich werde Ihnen gar nichts verraten.
Das ist alles vollkommen lächerlich. Sind Sie nun endlich fertig? Ich habe
Hunger!«
    »Oh, Sie werden noch lange Zeit
regelmäßig zu essen bekommen«, sagte Nogees. Er sprach schneller und schärfer.
Er ging aufs Ende zu. Es wurde absolut still zwischen den Zinnen.
    »Ich glaube, wir haben damit den Kreis
der Ereignisse geschlossen, die sich hier seit Doktor Bolds Ankunft abgespielt
haben. Drei Morde, ein Mordversuch. Ein mutmaßlicher Täter. Nur leider — kein
schlüssiger Beweis. Alles Vermutungen, vielleicht war es so, vielleicht nicht.
Eine Kette ohne Anfangsglied. Der Schlüssel ist das Motiv zum Mord an Doktor
Bergius. Ein Patient. Wer bringt einen Patienten um? Warum tut er das?«
    Edeltraud schwieg. Der Trotz aus ihren
Augen war verschwunden. Zum erstenmal glaubte ich Furcht darin zu sehen.
    »Im Fall von Doktor Bergius waren Haß
und Rachsucht die wahrscheinlichsten Motive. Geld? Unwahrscheinlich. Der Täter
konnte nichts erben. Es mußte etwas sein, was weiter zurücklag. Hier war für
uns nichts mehr zu holen. Wir mußten uns bei Bergius umsehen. Wir haben es
getan.«
    Nogees griff in die Brusttasche. Ein
gefaltetes Blatt kam heraus, etwas vergilbt mit rissigen Rändern. Er schlug es
langsam auseinander. Ein Doppelbogen, nur die Vorderseiten beschrieben. Ich sah
Unterschriften und ein großes Siegel mit einem Hoheitszeichen, an das ich mich
gut erinnerte. Nogees sprach gleichmäßig weiter.
    »Ich bin in die Kanzlei des Toten
gegangen, nachdem ich Doktor Biersteins Bericht gehört hatte. Ich erfuhr, daß
Doktor Bergius im Zweiten Weltkrieg Heeresrichter gewesen ist. Soll ein
strenger Herr gewesen sein, wie mir sein Kanzleisekretär erzählte. Wir sahen
seine gesamten Akten durch. Eine gräßliche Arbeit. Aber sie hat sich gelohnt.
Wir fanden das hier.«
    Er hielt das Blatt in die Höhe.
Edeltraud war totenbleich.
    »Es ist die Abschrift eines
Kriegsgerichtsurteils aus dem Jahre 1944. Heeresgruppe Mitte, und so weiter.
Ein Leutnant Friedrich von Stagg wurde wegen Zersetzung der Wehrkraft zum Tode
verurteilt und erschossen. Er hatte Zweifel am Endsieg geäußert und war
denunziert worden. Sicher erinnern Sie sich an Ihren Bruder, Fräulein von
Stagg!«
    Edeltrauds Kopf fiel etwas herunter.
    »Die Akten zeigen, daß die Familie von
dem Prozeß Kenntnis erhielt, ihn verfolgte und das Schlimmste abzuwenden
suchte. Ohne Erfolg. Der Vorsitzende des Kriegsgerichts, Doktor Walter Bergius,
hätte ohne Zweifel das Urteil mildern können. Dann wäre der Leutnant nach dem
Kriege aus dem Zuchthaus entlassen worden — und vier Menschen wären noch am
Leben. Bergius hat es nicht getan. Jahre später erkrankte er an Tuberkulose.
Eine Hirnhautentzündung kam dazu. Er wurde behandelt, sein Zustand besserte
sich. Man verlegte ihn in diese Zweigstelle. Hierher, wo Fräulein Edeltraud von
Stagg arbeitete.«
    Mit klarer Deutlichkeit sah ich die
Szene vor mir. Bierstein an Bergius’ Bett. Edeltraud mit der Krankengeschichte.
Sie kannte Bergius. Sie hatte seinen Tod beschlossen.
    »Ja«, sagte Nogees. »So fing das an.
Wäre wohl nie herausgekommen, wenn nicht Anna gewesen wäre und Inge. Bergius
war sicher vor den Gerichten, er hatte nur nach dem Gesetz gehandelt. Aber vor
Ihnen war er nicht sicher, Fräulein von Stagg. Damit konnte er nicht rechnen,
daß jemand Friedrich von Stagg noch rächen wollte nach so vielen Jahren.«
    Er schwieg. Es war nichts mehr zu
sagen. Jeder von uns blickte zu Boden auf den grauen Stein.
    Edeltraud bewegte sich. Sie hob
abwehrend die Hände. Sie sprach wie in höchster Angst, als müßte sie sich
wehren gegen das Unrecht. Ihre Augen flogen umher, sie wollte Hilfe von jedem
von uns. Sie trat etwas vor, in die Mitte unseres schweigenden Kreises.
    »Herr Kommissar — Herr Oberarzt — es
muß ein Irrtum sein! Ganz
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