Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite
Autoren: Hans Gruhl
Vom Netzwerk:
Oberschwester Anna und Schwester Inge gewartet
haben!«
    Biersteins Augen waren schmale
Schlitze.
    »Sie hatten die Luke geöffnet, und Sie
hatten richtig gerechnet. Bold wollte sie schließen. Wenn er es nicht getan
hätte, wären Sie ihm freudig überrascht im Turm begegnet. Und es ist durchaus
möglich, daß Sie noch andere Überraschungen für ihn bereit hatten.«
    Edeltraud faßte sich an den Hals. Ihr
Atem war laut.
    »Wir wollen das alles zunächst als
Hypothesen betrachten«, sagte Nogees. Er schien immer fröhlicher zu werden.
»Wir nehmen einfach an, daß seine Idee für Sie gefährlich werden konnte, wenn
er das Fenster tatsächlich wiederfand. Also mußte das unterbleiben. Denn
Schwester Anna hat offenbar in Ihrem Zimmer nach dem Morphium gesucht. Sie muß
den Diebstahl beobachtet haben. Sie beobachtete immer alles, wie ich erfahren
habe. Und sie riskierte viel. Sie konnte nur nicht wissen, daß Sie vom Turm aus
ihrer Tätigkeit zuschauten. Natürlich wußten Sie sofort, was das bedeutete,
zumal Anna geäußert hatte, sie würde sich schnell Gewißheit verschaffen. Also
blieb Ihnen nichts übrig, als Anna zu beseitigen. Sie gingen nachts zum Turm
und stellten die Pumpe ab. Sie waren sicher, daß Anna kommen würde. Und sie
kam. Sie betrat den Schaltraum. Oben an der Luke standen Sie. Der Stein war
wohl schon locker, man brauchte ihn nur noch mehr zu lockern. Und im rechten
Augenblick fallen lassen.«
    »Ich verbitte mir...«
    Nogees hob die Hand.
    »Nachher, Fräulein Doktor. Nachher.
Zunächst lassen Sie mich bitte zu Ende erzählen. Wir können dann sehen, ob ich
mich so irre. Ja, wo — richtig. Dann verschlechterte sich der Zustand von Doktor
Bergius. Er starb nach der letzten Punktion. Gleichzeitig verschwand das
Streptomycin, mit dem er behandelt worden war. Dem Herrn Oberarzt verdanken wir
die Aufklärung dieses Mordes. Er hatte den richtigen Einfall. Morphium
intralumbal.
    Bei unserem ersten Experiment versuchte
ich, mir einen Anhaltspunkt zu verschaffen, wer von den Anwesenden die Flasche
genommen haben könnte. Deswegen rekonstruierte ich die einzelnen Standorte und
Wege. Mein Verdacht fiel auf Doktor Pinkus und Sie. Er war allein im Raum
gewesen, als alle anderen ihn verlassen hatten. Sie dagegen hatten den stummen
Diener beim Hinausgehen zur Seite geschoben, weil er angeblich der Trage im
Wege stand. Und dabei wollten Sie nicht bemerkt haben, ob die
Streptomycinflasche noch darauf stand oder nicht. Das kam mir merkwürdig vor.
Und außerdem hatte Schwester Inge in diesem Augenblick hinter dem Kopfende der
Trage das Untersuchungszimmer noch nicht verlassen — sie konnte sehr wohl
beobachtet haben, wie Sie die Flasche verschwinden ließen. Und irgend jemand
hat sie beobachtet, denn sie wollte Doktor Bold, dem sie vertraute, davon
erzählen. Sie sprach mit ihm im Durchleuchtungsraum. Unglücklicherweise hatte
er die Übertragungsanlage nach draußen eingeschaltet. Er hatte ein bißchen
gespielt, wie er mir sagte. Nicht, Doktor Bold?«
    »Ja.« Mein Hals war rauh und heiß.
    »Und dieser Patient, der da noch fehlte
— wie hieß er doch — Strassmann, ja, den Fräulein Rediess zu holen
beabsichtigte, der war von Ihrer Station, Fräulein Doktor. Ich ließ mir sagen,
daß die Ärzte manchmal bei den Durchleuchtungen zuschauen wollen und daß Sie
das oft getan haben. Man kann wieder folgern, daß Sie die Röntgenabteilung
betraten, als Inge gerade bei Doktor Bold war. Sie hörten das Gespräch. Damit
war auch Inges Schicksal besiegelt. Sie ging zum Turm hinauf wie Anna. Dort
blieb sie, bis Doktor Bold sie fand.«
    Ich riskierte einen Blick zu Edeltraud.
Sie hatte sich gefangen. Ihr Gesicht war abweisend und voller Ironie. Ob Nogees
sich irrte? War das nicht Wahnsinn?
    Der Kommissar fuhr fort: »Denn eins ist
sicher: Es durfte nicht herauskommen, wer die Flasche weggenommen hat. Dann
hätte man nach den Gründen gefragt. Das Motiv der Morde an Anna und Inge blieb
völlig im dunkeln, bis Doktor Bierstein erkannte, daß der Patient Bergius ermordet
worden war. Denn wegen der zehn Ampullen und einer Flasche Streptomycin
brauchte niemand umgebracht zu werden. Der Sinn war, den Zusammenhang zu
verschleiern. Nichts ist so schwierig, als Morde aufzuklären, für die man
anscheinend kein Motiv weiß.«
    Edeltraud lachte schrill auf.
    »Aber mein Motiv, Doktor Bergius zu
ermorden, das haben Sie ohne Zweifel gefunden?«
    »Ich gebe zu, daß hier eine große
Schwierigkeit lag«, sagte Nogees bekümmert. »Aber
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher