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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite
Autoren: Hans Gruhl
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schicken muß. Frühstück halb neun, Mittag zwölf Uhr
dreißig, Abendbrot um sieben.«
    »Mein Hunger wird sich danach richten«,
antwortete ich. Sie wollte aber gar nicht lächeln, sondern wandte sich zur Tür.
    Fast hätte ich ›Achtung‹ gerufen und
Haltung angenommen. Sie hielt inne. Ihre Augen erfaßten mich noch einmal wie
einen armen Sünder. »Noch eins, Doktor Bold. Unter unserem Personal sind
etliche junge Schwesternschülerinnen und Schwestern. Die Frau Oberin und ich
sehen ungern, wenn sie ihre Gedanken anderswo haben als bei der Arbeit. Und
wenn in ihnen Hoffnungen erweckt werden, die sich niemals erfüllen. Dafür sind
sie zu jung. Und zu dumm.«
    Ich nickte.
    »Ich verstehe vollkommen,
Oberschwester. Manche Männer wollen eben trotz aller Ermahnungen nicht warten,
bis sie unser Alter erreicht haben.«
    Ihr Kopf ruckte etwas nach oben.
    »Ich weiß nicht, ob Sie diese Bemerkung
richtig finden.«
    Hinaus war sie. Ich fand die Bemerkung
nicht unrichtig, aber ich konnte es ihr nicht mehr mitteilen.
    Mit einem letzten, grimmigen Ruck ließ
ich den Koffer aufs Bett plumpsen. Die Jacke hängte ich über den Stuhl, und die
Luft kühlte meine Achselhöhlen, als ich die Fenster weit öffnete. Ich sah
ungefähr das gleiche Idyll wie vorher aus dem Kasinofenster und roch die
gleiche, liebliche Sommerluft mit Grashauch und Blüten. Nur etwas höher stand
ich jetzt. Der Berg war näher, und die Turmzinne stand als gewaltiger
Holzschnitt in der Natur.
    Nach einer halben Stunde war ich mit
dem Auspacken fertig. Mein Schlafanzug hatte vom Bett Besitz ergriffen. Die
Zahnbürste ragte aus dem Wasserglas, und mein Rasierapparat lud sich schon am
hauseigenen Strom auf. Man mußte sparen, wo man konnte.
    Es war kurz nach vier. Vielleicht hätte
ich pflichtbewußt und berufsbesessen die Röntgenabteilung aufsuchen und mich
über die Verhältnisse informieren sollen. Ich hatte so wenig Lust wie ein Kind
zu Schularbeiten. Morgen war früh genug. Mindestens ein halbes Jahr würde ich
mich mit dem Kram noch herumärgern können.
    Ich verließ mein neues Heim,
schlenderte den Flur hinunter, danach die Treppe, ohne Koffer und ohne Last.
Wieder Schwestern und Patienten, keiner wußte etwas Rechtes mit mir anzufangen.
    Unten in der Halle fand ich eine Tür,
die nach rückwärts hinausführte, es war die richtige. Links erstreckte sich die
Liegehalle. Die Leute lagen im Schatten, zugedeckt, schlafend, lesend. Ein paar
Köpfe hoben sich und sahen mir nach. Ich wanderte über den sandigen Weg
zwischen den Büschen wie ein zufriedener Landschaftsgärtner. Das Gras roch
fabelhaft. Jetzt kamen Bäume. Der Weg stieg an, schlängelte sich weiter. Ich
machte längere Schritte, wie ich es beim Militär gelernt hatte.
    Die Sonnenstrahlen rutschten schräg
zwischen den Stämmen hindurch, aber meistens war ich im Schatten. Es ging immer
steiler aufwärts und war weiter zum Gipfel, als ich vermutet hatte. Aber ich
war entschlossen, den Gipfel zu erklimmen und den Turm zu besichtigen, trotz
Pulsbeschleunigung und Atemnot.
     
     
    Unversehens war der Wald zu Ende. Ich
stand am Rand einer weiten Lichtung auf sandigem Boden. Vor mir erhob sich ein
runder, wuchtiger Backsteinbau von vielleicht zehn Meter Höhe. Eine
geschwungene Steintreppe führte an der Außenseite nach rechts und oben.
Offenbar war da eine Plattform, und von dort aus stieg der Turm in die Höhe wie
ein Bergfried auf der Ritterburg.
    Eine dicke Säule aus grauem Stein mit
kleinen, spitzbogigen fensterlosen Durchbrüchen. Obendrauf die Zinnenkrone, die
ich schon vom Weg her gesehen hatte, stumm und zackig.
    Langsam ging ich weiter. Ich wanderte
nach links und um den steinernen Sockel herum. An der Rückseite fand ich eine
Holztür, auch spitzbogig, grün angestrichen und verwittert. Ein Vorhängeschloß
aus der Merowingerzeit hielt den Riegel, aber es war nicht zugedrückt.
Vermutlich ließ es sich nicht mehr zudrücken. Ich hörte ein gleichmäßiges
Summen hinter der Tür, was meine Neugierde sehr förderte. Der Riegel öffnete
sich unwillig, als ich das Merowingerschloß aus der Krampe gehoben hatte.
    Die Tür ächzte. Ich trat vorsichtig ein
und war in einem kleinen, ausgemauerten Raum. Es roch nach feuchtem Moos. Im
Halbdunkel erkannte ich ein Aggregat mit einem Elektromotor und allerhand
Röhren, von dem das Summen herkam. Diagnose Kreiselpumpe.
    Gegenüber an der Wand war eine
Schalttafel mit etlichen Schaltern und Sicherungen. Das Licht fiel von oben
durch eine
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