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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite
Autoren: Hans Gruhl
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also fast
autark. Und hier oben hat wahrscheinlich der Vorstandsvorsitzer Schutz gesucht
und sich verteidigt, wenn die Aktionäre anrückten und mehr Dividende wollten.
Wie lange sind Sie hier?«
    »Acht Monate.«
    »Viel zu tun?«
    »Erträglich. Der Oberarzt hält nichts
vom Wühlen. Wir tun, was gemacht werden muß, aber bringen uns nicht um.«
    »Das heiße ich vernünftig«, erwiderte
ich und musterte ihr Profil eingehend. »Sie werden in mir einen Gleichgesinnten
entdecken. Übrigens habe ich ihn und die anderen Doktoren schon kennengelernt.
Mit Bier im Kasino. Auch der Oberschwester bin ich begegnet.«
    »Uii! Was hat sie mit Ihnen gemacht?«
    »Sie hat befohlen, daß ich die Finger
von den jüngeren, weiblichen Hilfskräften lasse.«
    »Sie wird noch bedeutend mehr befehlen.
Aber sie hält den Laden in Ordnung, das muß man ihr lassen.«
    »Ein Laden, der zu sehr in Ordnung ist,
hat seine Nachteile. Ein bißchen Schlamperei versöhnt mit dem Frondienst.«
    »Sie sind kein Arzt aus Leidenschaft,
wie?«
    »Nein. Der Dümmste aus unserer Familie
mußte immer Medizin studieren. Das ist alles.«
    Sie betrachtete mich nicht ohne
Mitleid. Das war ein Grund, sie anzulächeln.
    »Vielleicht sollten wir versuchen,
diesen Turm zu verlassen und die Röntgenabteilung in Augenschein nehmen«, sagte
sie.
    »Ich geleite Sie zu Tal, Petrine.«
    »Petrine hat noch niemand gesagt.«
    Ich ging hinter ihr die Treppen
hinunter und war recht zufrieden. Wir wanderten durch die Bäume. Petras Kleid
war jetzt rötlich im Sonnenlicht. Sie führte mich in den Röntgentrakt.
    Die Apparate waren nicht die neuesten,
aber sie funktionierten noch, trotz der Bastelarbeiten des Oberarztes.
    Ich drohte Petra an, sie am nächsten
Morgen hart zur Arbeit anzutreiben, und ging in mein Zimmer. Die Aussicht,
etliche Monate mit ihr zusammenzuarbeiten, erleichterte mir den Weg.
    Ich wusch mich und zog ein neues Hemd
an. Dann war es auch schon um sieben. Ich machte mich auf zum Kasino, war der
erste und wartete. Ein geräuschloses Mädchen deckte den Tisch zu Ende. Brot,
Tee, Wurst, Käse, eine Salatmixtur. Von allem genug und mit einem Geruch nach
Mustergut und Lebensmittelüberschuß.
    Nacheinander erschienen Pinkus,
Fräulein Doktor, Oberarzt Bierstein.
    »Na? Schon bißchen rumgeguckt?«
    Ich erzählte vom Turm und daß Petra
Rediess mich dort besucht hätte.
    »Ich werd’ verrückt«, sagte Bierstein
kauend. »Kaum da, geht er schon mit dem Mädchen uff Montage.«
    »Das war nur eine Arbeitsbesprechung,
Herr Oberarzt«, antwortete ich. »Ich habe mich über meine Arbeitsbedingungen
informiert.«
    »Sehr hart, was?« fragte Fräulein
Stagg.
    »Gewerkschaftsfeindlich.«
    »Zwei Stunden ham Se zu tun«, fuhr
Bierstein fort. »Routine noch und noch. Alles Kontrollen. Die Neuzugänge
bringen sowieso einen Haufen Voraufnahmen mit. Drei, vier, fünf Schichten am
Tag, paar Knochen, ab und zu mal ‘n Magen. Nebbich.«
    »Die meiste Zeit wird der Kerl hinter
seiner Kanone schlafen«, sagte Pinkus.
    »Glaube auch.« Der Oberarzt nahm ein
Pfund Salat auf seinen Teller. »Im Augenblick haben wir nur drei Leute, mit
denen es sauer aussieht.«
    »Was?«
    »Na ja. Zwei alte Kunden mit Löchern
auf jeder Seite, daß man sich wundert, wo sie noch genug Ozon zum Atmen
herkriegen. Und dann ein Zugang von vorgestern. Alte spezifische Meningitis.
War schon ganz in Ordnung. Dann ging es wieder los, und er macht noch ‘ne Kur.
Gefällt mir nicht sehr, der Gute. Aber viel kann man noch nicht sagen.«
    Ich kaute und sagte nichts. Eine
tuberkulöse Hirnhautentzündung, früher rettungslos verloren, jetzt mit
Streptomycin zu retten, wenn man nicht zu spät kam. Jeden Tag wurde das Mittel
in die Rückenmarksflüssigkeit gespritzt.
    »Er sieht schon besser aus«, sagte
Pinkus. »Weniger Zellen im Punktat.«
    Fräulein Doktor grinste wie ein
Heinzelmännchen.
    »Auch noch Rechtsanwalt. Wenn was
schiefgeht, verklagt er Sie, Pinkuslein.«
    »Ich schieb’s auf den Ober«, sagte
Pinkus. »Er kriegt mehr Geld. Soll er auch länger sitzen.«
    »Macht mir keine Angst, ihr Banausen«,
sagte Bierstein.
    Er stieß die Gabel in den Wursthaufen.
Dann hielt er inne und drehte den Kopf. Vor der Tür erklangen harte Schritte.
    Wir alle sahen hin. Sie wurde aufgerissen.
Die Oberschwester füllte den Türrahmen aus. Ihr Blick ging vom Oberarzt abwärts
zu mir. Sie trat durch die Tür und schloß sie hinter sich.
    »‘n Abend, Oberschwester«, sagte
Bierstein zwinkernd. »Woll’n Sie
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