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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite
Autoren: Hans Gruhl
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schleifen Se den
Kobold zur Oberschwester, damit er seinen Steckbrief ausfüllt. Dann soll sie
ihm seinen Wigwam zeigen.« Er wandte sich zu mir. »Hab acht vor der
Oberschwester, Bold. Ist vom alten Schlage. Grimmig. Sieht alles, hört alles,
weiß alles. Heißt deswegen Schwester Spionate. Aber reden Se sie lieber mit
Oberschwester an. Also dann, bis zum Abendmahl.«
    Wir verließen das Kasino und trennten
uns. Ich folgte Pinkus, der so nett war, die Aktentasche zu tragen. Einige
Patienten drückten sich an den Wänden entlang und musterten mich abschätzend,
bevor sie »Guten Tag, Herr Doktor« zu Pinkus herausquetschten.
    An der Tür stand »Oberschwester Anna
Schlag.«
    Pinkus klopfte bescheiden. Sie rief
»Herein«. Es klang, als führe ein Krummsäbel durch das Holz. Wir schoben uns
ins Zimmer. Ich stellte den Koffer vorsichtig auf den glänzenden Fußboden.
    Anna Spionata saß hinter einem
Schreibtisch und vor einem breiten Fenster mit fürchterlich vielen
Schlingpflanzen auf dem Fensterbrett. Ein zweites Fenster an der linken Seite
war ebenso dekoriert. Ich bekam ein Gefühl von Blattläusen und überlegte,
wieviel Zeit des Tages sie mit Gießen verbringen mußte.
    Anna war untersetzt und schien
energiegeladen. Ein fleischgewordener Kondensator. Man konnte mit einem Blick
sehen, daß sie von den Ärzten nur den Oberarzt akzeptierte, und auch den nur
zur Hälfte. Sie mußte Mitte Fünfzig sein, aber ohne Zweifel würde sie in
fünfzig Jahren noch genauso aussehen. Ihr Kittel und ihre Haube hätten
sämtlichen Waschmittelfirmen der Welt zur Ehre gereicht. Sie hatte graue
Strähnen im Haar und eine fleischige Nase. Die Augen daneben bohrten sich in
meine Hirnschale.
    »Gott zum Gruße, Oberschwester«, sagte
Pinkus vergnügt. »Das ist Doktor Bold. Neuer Röntgenologe bei uns. Unsere
bewährte Oberschwester Anna. Ohne sie stände der Zusammenbruch des Unternehmens
unmittelbar bevor.«
    »Guten Tag, Oberschwester«, murmelte
ich zurückhaltend.
    »Guten Tag.« Sie reichte mir die Hand
über die Schreibtischplatte. Meine Mittelhandknochen knirschten etwas. Sie
durchbohrte mich weiter. »Röntgenologe? Ich weiß nicht recht, weswegen die
Herren ihre Aufnahmen nicht mehr selbst diktieren können!«
    »Ich weiß es auch nicht,
Oberschwester«, sagte Pinkus verbindlich. »Sicher weiß es der Chef. Wir fragen
ihn mal, wenn er kommt. Na, dann auf Wiedersehen. Die Oberschwester wird Sie in
Ihre Gemächer geleiten, Herr Bold. Machen Sie sich’s recht gemütlich.«
    Er verschwand, und ich war allein mit
Anna. Sie erhob sich seufzend. Es war fast so, als müßte sie mein Gehalt
bezahlen.
    »Setzen Sie sich.« Sie deutete auf
einen Stuhl neben dem Schreibtisch. Dann zog sie einen länglichen Holzkasten
heran und fingerte eine Karteikarte heraus mit vorgedruckten Fragen zur Person.
Anschließend setzte sie sich hinter eine gigantische Schreibmaschine an einen
kleinen Tisch neben der Tür. Sie spannte die Karte ein. Ihre Fragen kamen
schnell und messerscharf zwischen dem Gerassel der Tasten. Auf die Art blieb
ihr nichts verborgen, vom Tage meiner Geburt über die Vollapprobation bis zum
ledigen Familienstand. Es war wie auf dem Polizeirevier bei Nacht auf Sankt
Pauli.
    Dann ordnete sie die Karte in den
Kasten ein und befahl mir ohne Umstände, ihr zu folgen.
    Ich nahm das Gepäck auf in dem
tröstlichen Bewußtsein, daß es das letzte Mal für heute sein würde. Wir stiegen
ein Stockwerk höher hinauf. Scheue Schwestern schwebten an uns vorüber, machten
kleine Bogen um uns und senkten die Hauben ängstlich. Anna marschierte so
schnell vor mir her, daß ich wieder in sanften Schweiß geriet. Sie stieß die
Tür auf, soweit ich erkennen konnte die vierte oder fünfte vor dem Ende des
Ganges.
    Das Zimmer gefiel mir nicht schlecht.
Etwas schwach möbliert, aber praktisch, Bett nicht zu klein, Schrank groß
genug.
    Ein einigermaßen bequemer Sessel und
ein mittelgroßer Schreibtisch und gottlob keine Schlingpflanzen. Zwei große
Fenster mit hübschen Gardinen, ein kleiner Radioapparat, eine Nachttischlampe.
    Das Waschbecken reichte aus, um Hände
und Gesicht gleichzeitig hineinzutauchen und hatte Hähne für kalt und warm,
wenn welches lief.
    »Hier«, sagte Anna. »Bad und Toilette
sind auf dem Flur. Dort hängt der Schlüssel. Um Bettwäsche und Handtücher
brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Nur Ihre Kittel geben Sie bitte pünktlich
jeden Montag ab. Nicht wie Doktor Pinkus, dem ich jedesmal eine
handschriftliche Einladung
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