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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite
Autoren: Hans Gruhl
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Kubikwurzelziehen. Das würde
einen fürchterlichen Eindruck auf ihn machen.«
    Sie sah das ein, meinte aber, von
unerwarteter Visite könnte keine Rede sein. Der Chef kündigte sich immer an,
und außerdem funktionierte Biersteins Nachrichtendienst hervorragend.
    Ich sagte ihr beruhigt gute Nacht.
Wider Erwarten fand ich mein Zimmer und machte mich an die Befunde, die ich mir
zurechtgelegt hatte. Dazwischen lauschte ich dem Flüstern der Bäume im Park und
dem zornigen Ansturm der Mücken gegen den Vorhang.
    Die Zeit verging schneller, als ich
befürchtet hatte. Schularbeiten waren nie meine starke Seite gewesen. Trotzdem
war es halb zwölf, als ich aufhörte und im Bewußtsein erfüllter Pflicht in
erquickenden Schlummer sinken wollte.
    Ich wusch mich ausgiebig. Als ich
beginnen wollte, den Seifenschaum mit dem ausgespülten Waschlappen aus meinem
Antlitz zu entfernen, brach das gleichmäßige Geräusch des Wasserstrahls ab. Nur
noch ein paar müde Tropfen klickerten hohnvoll ins Becken.
    Ich starrte aus verkleisterten
Seifenschaumaugen den vermaledeiten Hahn an, wunderte mich erst und ärgerte
mich dann. Erst danach fiel mir ein, was passiert sein mußte. Die Pumpe stand
still. Ausgerechnet jetzt, wo ich mit der vortrefflichen Herrenseife im Gesicht
herumstand.
    Es blieb nichts anderes übrig, als sie
mit Lappen und Handtuch wegzuwischen, bevor sie festtrocknete und nur noch mit
Meißel und Hammer zu entfernen war.
    Langsam zog ich mich aus und
beobachtete dabei den stummen Hahn. Die Tropfen fielen jetzt selten wie die
Sechser im Lotto.
    Ich drehte ihn ab, um nicht unangenehm
zu träumen, wenn er nachts wieder ansprang, und löschte das Licht aus. Als das
Summen der Mücken hinter dem Vorhang schwächer wurde, zog ich ihn zurück und
öffnete die Fensterflügel weit. Einzelne der Tierchen drangen ein, aber das
würde wohl so bleiben bis zum Winter. Ich steckte die Nase weit zum Fenster hinaus.
In diesem Augenblick hörte ich den matten Schlag einer Tür unter mir.
    Der Strahl einer Taschenlampe erschien
im Garten neben der Liegehalle und bewegte sich weiter, den Weg zum Berg
entlang.
    Eine kräftige Gestalt in
Schwesterntracht ging mit energischen Schritten und in beachtlichem Tempo
dahinter her.
    Anna Spionata, der Welt vortrefflichste
Oberschwester.
    Na, nun war alles klar. Man hatte ihr
gemeldet, daß die Pumpe ausgefallen und das Wasser weg war. Anna nahm die Sache
in die Hand, ohne Furcht vor dem leibhaftigen Gottseibeiuns und anderem
lichtscheuen Gesindel.
    Beachtlich.
    Ich drehte meinen Hahn wieder auf,
entschlossen, beim Erscheinen des Wassers doch noch den Seifenrest von meiner
Epidermis zu waschen. Bei Annas Marschgeschwindigkeit mußte sie in wenigen
Minuten oben sein und die Pumpe zur Räson bringen.
    Die Minuten vergingen. Der Hahn rührte
sich nicht. Jetzt kamen nicht einmal mehr Tropfen. Ich ging zurück ans Fenster
und wartete auf den Lichtstrahl vom Berg her und Annas Schritte. Nach einer Weile
sah ich auf meine Uhr und wartete weiter. Es konnte möglich sein, daß Anna mit
der Pumpe nicht klarkam und sich vergeblich abmühte.
    Aber dann waren zwanzig Minuten
vergangen.
    Anna kam noch immer nicht zurück.
     
     
    Ich wartete weitere zehn Minuten am
Fenster und handelte mir noch ein paar Mückenstiche ein. Anschließend zog ich
den Vorhang zu, machte Licht und sank abermals auf den Bettrand, in der
Hoffnung, im Sitzen leichter zu einem Entschluß zu gelangen. Anna hätte längst
da sein müssen. Möglich, daß sie vorn herumgegangen war. Aber dann würde das
Wasser laufen.
    Möglich aber auch, daß sie gefallen war
und irgendwo draußen herumlag. Bei ihrem Tempo war es kein Kunststück, über
eine Baumwurzel zu stolpern.
    Es blieb mir nichts übrig. Ich mußte
gleich in der zweiten Nacht den edlen Ritter spielen.
    Ich drehte den verdammten Hahn zum
zweitenmal zu und kroch aus dem Schlafanzug. Angezogen war ich schnell, ich
hatte genug Zeit gehabt, das zu üben. Hose und Hemd genügten für die
Expedition.
    Im ersten Stock fiel Licht aus dem
Untersuchungszimmer der Station. Ich trat ein und blickte in das nette
Gesichtchen der Schwester Inge, die mich am Tag zuvor wegen Rauchens in der
Halle verwarnt hatte. Es war etwas blaß.
    »‘n Abend. Nachtdienst?«
    »Ja, Herr Doktor.«
    »Ich hab’ die Oberschwester raufgehen
sehen. Noch nicht zurück?«
    »Nein«, sagte sie ängstlich. »Das
Wasser läuft auch noch nicht. Ich weiß nicht, was ich machen soll — ich kann
nicht weg von der Station —
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