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Die letzte Nacht

Die letzte Nacht

Titel: Die letzte Nacht
Autoren: Andrea Fazioli
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dass seine Tochter so leidenschaftlich gern spielte? Hatte er ihr nicht die Freude am Wagnis, am Überraschungscoup nahegebracht?
    Er gab sich nie eine Antwort darauf, denn kaum zu Hause angelangt, kam die Zeit des Handelns.
    Salviati wohnte in einem Gebäude am Parkrand. Ein stabiler Bau mit dicken Mauern, klein, aber hübsch gelegen: Nebenan befand sich eine Quelle, die das gesamte Jahr über für frisches Wasser sorgte. Nachdem er seinen Motorroller abgestellt hatte, zündete er die Laterne unter dem Vordach an und trat in den Flur. Der Brief lag auf dem Boden, unter der Tür. Salviati vermutete, dass Gilbert, der Laufbursche, der ihm hin und wieder zur Hand hing, ihn gebracht hatte.
    Er ging in die Küche. Er hatte noch Appetit, aß ein Stück Brot und etwas Käse. Dann nahm er einen Schluck Wasser und öffnete schließlich den Brief. In diesem Augenblick verschwamm alles miteinander: die Zeit der Überfälle, die Reue, der provenzalische Himmel, der Gedanke an seine Tochter und die Tatsache, dass das Spiel noch nicht zu Ende war. Noch konnte er sich nicht zurückziehen.
    Jean Salviati,
    ich habe ein Projekt, das dich interessieren wird. Ich weiß, dass du gerne Nein sagen würdest. Aber da Lina auf unbestimmte Zeit mein Gast sein wird, glaube ich, du solltest die Sache noch einmal überdenken.
    Schreibe mir an das Postfach 4980, 6900 Lugano. Und füge deiner Antwort dieses Schreiben bei.
    Herzliche Grüße,
    Luca
    Luca Forster. Wenige Worte, keine Details. Aber Salviati brauchte nicht mehr. Das Spiel war noch nicht zu Ende, soviel war sicher. Und er musste Madame Augustine um Beurlaubung bitten.

5
Rückkehr nach Lugano
    Manche sagen, dass Orte ihre eigenen Erinnerungen bergen.
    Salviati fand das nicht. Die Erinnerungen sind in den Menschen, in ihren Blicken. Oder in ihren Sachen. Linas Wohnung war klein und roch ungelüftet. Das Bett ungemacht, eine Milchpackung auf dem Küchentisch, eine rot-gelb karierte Decke auf dem Sofa. Schmutzige Gläser auf dem Glastischchen im Wohnzimmer.
    Auf dem Teppich vor dem Fernseher lagen eine Platte von John Coltrane, ein Buch über Meditation und eine DVD mit Hugh Grant. Salviatis Blick schweifte langsam durch die Räume, auf der Suche nach etwas Auffälligem, nach etwas, das nicht hierhergehörte.
    Aber es herrschte einfach nur Unordnung. Nichts Besonderes.
    Eine Menge Papiere auf dem Schreibtisch. Belege, offene Rechnungen, Eintritts-, Kino- und Konzertkarten. Nirgendwo Geld, außer zwanzig Franken in der Nachttischschublade.
    Salviati setzte sich an den Küchentisch. In der Wohnung gab es weder Zeichen eines Kampfes noch Zeichen eines freiwilligen Aufbruchs. Allerdings war die Milch abgelaufen. Und die Geranien auf dem Balkon waren verwelkt. Lina hatte nicht damit gerechnet fortzubleiben.
    Hatte Luca Forster ihr etwas angetan?
    Keine voreiligen Schlüsse, dachte Salviati, während er die Wohnung verließ. Er hatte Werkzeug dabei, um sich Zugang zu verschaffen, aber die Tür war nicht abgeschlossen gewesen. Er verließ die Wohnung wie er sie vorgefunden hatte und trat auf die Straße. Die Haustür war vollkommen unbewacht. Um hineinzukommen, hatte sich Salviati einer mit Einkaufstüten bepackten Bewohnerin angeschlossen, die er gegrüßt und der er in den Aufzug geholfen hatte.
    Er lief die Straße am Cassarate hinunter. Seit Jahren war er nicht mehr in der italienischen Schweiz gewesen. Aber unterwegs erkannte er die Straßen, den Geruch der Stadt wieder. Es gab mehr Autos, mehr fremde Stimmen und Gesichter. Einschließlich meinem eigenen, dachte er. Er blieb stehen und sah auf den Fluss. Ein roter Ball war ins Wasser gefallen, unterhalb eines kleinen Wasserfalls. Strömung und Gegenströmung hielten ihn an einem Punkt fest.
    Salviati ließ sich in den Bann ziehen. Reglos fixierte er den Ball, bis alle Gedanken aus seinem Kopf verschwunden waren.
    Dann trank er auf der Terrasse eines Restaurants, wenige Meter vom Cassarate entfernt, ein Bier. Mittlerweile war alles ziemlich klar: Forster saß am längeren Hebel. Und solange Salviati nicht herausfand, wo Lina war, musste er nach dessen Pfeife tanzen.
    Es war ein warmer Tag, Schwüle lastete auf dem Asphalt. Die Sonne brachte die Autodächer auf dem Parkplatz des Padiglione Conza zum Glühen.
    Salviati überquerte die Kreuzung am Ende der Via Cassarate und ging zu Fuß in Richtung Innenstadt. Er hatte auf Forsters Brief schlicht mit: »Ich bin in Lugano« geantwortet. Und Forster hatte ihm für denselben Abend gegen sechs Uhr
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