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Die letzte Nacht

Die letzte Nacht

Titel: Die letzte Nacht
Autoren: Andrea Fazioli
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genug gearbeitet heute Abend!«
    »Gearbeitet? Aber wenn …«
    »Ich habe Hunger. Du auch?«
    Sie aßen in einem Restaurant am See, in Castagnola, und Lina merkte, dass sie tatsächlich ruhiger war. Die Aussicht, ihren Vater zu belügen, bereitete ihr Sorgen, aber dafür hatte sie keine Angst mehr vor Forster. Sie war nicht mehr in Gefahr. Fürs Erste.
    »Lass uns vorläufig nicht dran denken«, sagte Matteo. »Weißt du was? Wir könnten irgendwo tanzen gehen. Hast du das Kasino nicht satt?«
    »Hier …«
    »Ach komm, hier sind nur Alte! Lass uns unter junge Leute gehen!«
    Lina lächelte. Und wenn ich ihm tatsächlich gefalle? Nicht, dass der Bankraub am Ende ein Vorwand ist, das wäre ziemlich dumm. Aber im Grunde, so ein bisschen, vielleicht, so zum Spaß …
    »Und nun?«, drängte Matteo. »Ich würde vorschlagen, wir gehen ins Vera Cruz, das ist was Besonderes, und außerdem kenne ich den Besitzer. Was meinst du?«
    Sie saßen an einem Holztisch, in der Ecke einer Terrasse, abseits der übrigen Gäste. Der See war ein dunkles Auge, in dem hier und da ein paar goldene Halme leuchteten: Touristenboote oder heimliche Angler.
    »Warum nicht«, sagte Lina, die Hände unter dem Kinn, während sie den Blonden aufmerksam musterte.
    Er lächelte breit.
    »Also gehen wir! Die Nacht gehört uns! Oder hast du morgen was vor?«
    »Nichts Wichtiges. Ach doch, ich muss einen Bankraub organisieren …«
    »Ach wirklich? Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein, mein Fräulein. Darf es ʼne große Tasche sein, oder genügt das kleinere Modell?«
    Sie brachen in Gelächter aus.
    Lina gelang es nicht, ihre Zweifel ganz wegzuwischen, aber sie fühlte sich so leicht wie schon lange nicht mehr. Ohne Angst, ohne das Gewicht der Vergangenheit. Jahrelang hatte sie die Reue für ihr Handeln erdrückt: Die Zeit der Leichtigkeit wurde immer abgelöst durch die Zeit der zu begleichenden Schuld, der zerbrochenen Freundschaften, wie ein Teufelskreis. Aber jetzt lächelten alle, waren alle auf ihrer Seite.
    Zumindest für diese Nacht.
    Und wenn sie ihre Karten gut ausspielte, würde ihr das Glück am Ende vielleicht beistehen.

4
Wein und Geplauder
    In jener Gegend der Provence verliert sich während der Ferienmonate bisweilen die Zeit. Die Sonne steht still am Nachmittagshimmel und du siehst deine alten Sommer wieder, die sich durch die Jalousien zwängen oder im Staub eines schattigen Wohnzimmers kreisen. Du hörst sie beinahe summen, zusammen mit dem Geräusch eines Mofas auf der Straße.
    Jean Salviati achtete auf die Zeichen verschütteter Sommer. Schon deshalb, weil er nicht viele erlebt hatte. Das Jahr über war er in der Schweiz geblieben, während der Ferien nach Frankreich zu den Großeltern gegangen. Dort hatte er viele Dinge gelernt, Dinge, von denen man gar nicht weiß, dass man sie gelernt hat, bis man sie vergisst.
    »Hier lässt es sich aushalten, stimmt’s?«, sagte Filippo Corti.
    »O ja!«, rief seine Frau Anna. »Am liebsten würde ich gar nicht mehr zurück nach Hause!«
    Salviati nickte nur. Etwas an dieser langsam hereinbrechenden Dämmerung erinnerte ihn an seinen Vater. An dessen bedächtige Gebärden, die Präzision, mit der er seine Coups vorbereitete. Als er ihn zum ersten Mal beim Ausräumen einer Wohnung begleitet hatte, waren die Großeltern bereits seit einigen Jahren tot. So hatte Jean Salviati ohne Konflikte der Kindheit den Rücken gekehrt.
    »Hast du eigentlich deine Kiefer wieder hinbekommen, Jean?«, erkundigte sich Filippo.
    »Na ja«, antwortete der Gärtner, »sagen wir, ich habe das Problem gefunden.«
    »Und das wäre?«
    »Es war eine … chenille, wie heißt es gleich auf Italienisch? Ein Prozessionsspinner, glaub ich.«
    »Ein Schädling?«, fragte Anna.
    »So was Ähnliches. Später werden Falter draus, aber erst mal hocken sie tagsüber in ihrem Gespinst. Und jede Nacht kommen sie der Reihe nach raus, um die frischen Kiefernnadeln abzufressen.«
    »Was du nicht sagst!«
    Sie saßen bei einem Glas Rotwein auf der Terrasse des Ehepaars Corti. Weit unten, hinter den Bergen, schimmerte die Küste. Im Hintergrund das Meer. Um diese Tageszeit war es jedoch kaum noch zu erkennen, die Dinge verloren allmählich ihre Umrisse.
    »Später werden Falter draus, dunkel mit gelben Flecken«, sagte Salviati und zog bedächtig an seiner Pfeife. »Sie anzufassen ist übrigens gefährlich, sie brennen wie Quallen im Meer.«
    »Und zuerst fressen sie die Nadeln der Strandkiefern?«, fragte Anna.
    »Es ist eine
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