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Die letzte Nacht

Die letzte Nacht

Titel: Die letzte Nacht
Autoren: Andrea Fazioli
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bewahren.
    »Wie das? Ich habe mich doch soeben vorgestellt. Es gibt nichts mehr zu verbergen.«
    »Hören Sie …«
    »Ich weiß, dass Sie Lina Salviati heißen, und dass Sie gewinnen müssen.«
    Der junge Mann legte eine Pause ein und nahm einen Schluck von der dunklen Flüssigkeit. Whisky, vermutete Lina.
    »Sehen Sie«, fuhr Matteo fort, »ich kenne Ihr Problem, denn ich habe eine Menge Freunde. Aber ich bin eher Ihr Freund als der der andern, Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen.«
    Lina hatte sich bei zweifelhaften Leuten verschuldet. Sie wusste, dass sie früher oder später dafür geradestehen musste: Sie hatte bereits einige unangenehme Begegnungen hinter sich. Aber dieser blonde junge Kerl schien anders zu sein als die üblichen Geldeintreiber, die sich meistens darauf beschränkten, auf ihren Busen zu schielen und finstere Drohungen auszustoßen.
    »Ich kenne Signor Forster«, sagte Matteo. »Ich weiß, dass Sie ihm unter besonderen, dem Beruf Ihres Vaters zu verdankenden Umständen begegnet sind.«
    »Aber was …«
    »Sagen Sie nichts! Ich weiß außerdem, dass Sie dem alten Forster in den letzten Jahren eine schöne Stange Geld abgeknöpft haben. Und dass er es zurückhaben will. Spüren Sie nicht seinen Atem im Nacken?«
    »Ich … ich …«
    Matteo beugte sich zu ihr und berührte ihr Knie.
    »Ich bin ihnen bis ins Kasino gefolgt und habe zugeschaut, wie Sie zuerst fünfhundert Franken beim Roulette und dann ich weiß nicht wie viel bei den Automaten verloren haben. Was würde Forster dazu sagen?«
    Matteo wartete die Antwort nicht ab. Er lehnte sich zurück und schloss:
    »Forster könnte Sie beschatten lassen. Er ist nicht dumm, verstehen Sie? Er weiß, dass Sie in Lugano sind und sein letztes Geld durchbringen.«
    »Was erlauben Sie sich?« Lina wählte die unbeugsame Tour. »Wer gibt Ihnen das Recht …«
    Matteo sah ihr starr in die Augen.
    »Ich bin jemand, der Ideen hat. Seit Monaten tüftel ich schon daran. Und auch für Sie habe ich einen Plan.«
    Lina wusste nicht, was er von ihr wollte. Dieser Typ war mindestens vier oder fünf Jahre jünger als sie, und dennoch sprach er in väterlichem Ton mit ihr, verzog keine Miene. Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu und erhob sich, in der Absicht, ihm eine Szene zu liefern. Matteo kam ihr zuvor:
    »Ich muss jetzt gehen.« Er erhob sich ebenfalls. »Aber ich lasse wieder von mir hören. Ich rate Ihnen, spielen Sie nicht länger!«
    Bevor Lina antworten konnte, eilte er bereits dem Ausgang zu.
    Rings um die Bar hatte sich nichts verändert. Ein Kasino ist ein ewig gleichbleibender Ort. Der trübe Blick der Kellner, Pärchen, die händchenhaltend die Würfel werfen, eine Gruppe Jugendlicher, die sich wie Erwachsene geben. Und dieses Hintergrundgemurmel, das durch die stets wiederkehrenden, monotonen Stimmen der Croupiers seinen eigenen Rhythmus bekommt. Lina mochte die dunkelroten Vorhänge, den Teppichboden, der die Schritte dämpfte, die goldfarbenen Spieltische.
    Ich darf nicht lockerlassen, dachte sie. Das ist mein Kampf, nur hier kann ich alles lösen. All das hatte angefangen, als … Sie wusste es nicht mehr. Eines Tages hatte sie begonnen zu spielen, an der Côte d’Azur, um die Langeweile zu besiegen und um dem Vater zu entkommen. Und dann hatte sie nicht mehr aufgehört: die Nächte, die Nachmittage, die Mahlzeiten, die Ferien, das Meer und die Arbeit, alles aufgesaugt von diesem Augenblick des Innehaltens kurz vor der Entscheidung. Dieser Moment des Rausches, solange noch alles möglich ist.
    Sie beschloss, es noch einmal am Roulettetisch zu probieren. Sie hatte ein besonderes Verhältnis zur Fünfunddreißig. Früher oder später wird es klappen, dachte sie, während sie weitere Jetons eintauschte. Wer über diese Dinge lacht, hat nichts vom Leben begriffen. Sie spielte ohne Unterbrechung, nahm sich nicht einmal Zeit, um auf die Toilette zu gehen. Aus ihrem Bewusstsein verschwand jegliche Erinnerung.
    Auch an diesem Abend hatte sie kein Glück. Vielleicht, weil es ihr nicht gelungen war, zu vergessen, dass sie Geld brauchte. Vielleicht hatte die Begegnung mit dem blonden jungen Kerl sie zerstreut. Am Ende ließ sie weitere zweihundert Franken im Kasino und trat hinaus auf die Uferpromenade.
    Die Straße, die am Ceresio entlangführte, war für den Verkehr gesperrt. Lina lief, ohne an irgendetwas zu denken. Rings um sie der rege Trubel eines Sommerabends. Familien beim Spaziergang, junge Männer mit gierigen Augen und
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