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Die letzte Nacht der Unschuld

Die letzte Nacht der Unschuld

Titel: Die letzte Nacht der Unschuld
Autoren: India Grey
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beste Ärztin für Hirnverletzungen, und dennoch musste sie jedes Mal, wenn sie Cristiano Maresca anschaute, den Funken Anziehungskraft ersticken, der sich dann melden wollte. „Das habe ich nicht gesagt.“
    „Nein, nicht mit diesen Worten“, meinte er rau. Linien der Anspannung hatten sich um seinen Mund eingegraben. „Aber solange Sie nicht herausgefunden haben, was mit mir nicht stimmt, und dann auch noch die Behandlungsmethode bestimmen können, kommt es auf dasselbe heraus.“
    „So simpel ist es nicht, Cristiano. Die gute Nachricht ist, dass Sie da auf dem Schirm ein völlig intaktes Organ sehen. Die Verletzungen nach dem Unfall sind vollständig geheilt.“ Mit gerunzelter Stirn überflog sie den Befund. „Ihre Werte sind exzellent, Reflexe und Reaktionszeit wesentlich besser als die eines gleichaltrigen gesunden Mannes. Ich habe sämtliche zur Verfügung stehende Untersuchungen und Tests bei Ihnen gemacht. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass es keinen physiologischen Grund für Ihre Symptome gibt.“
    Er lachte trocken auf. „Heißt das, ich bilde mir das alles nur ein?“
    „Das Gehirn ist ein sehr komplexes Organ. Ein organischer Schaden ist leicht zu erkennen, ein psychologischer dagegen lässt sich nur schwer messen. Die Angstzustände und plötzlichen Rückblenden, unter denen Sie leiden, wenn Sie hinter dem Steuer sitzen, sind echte Symptome, nur kann ich dafür keinen organischen Grund feststellen – und daher auch nicht behandeln.“
    Sie sammelte die Unterlagen zusammen. „Meiner Meinung nach“, setzte sie vorsichtig an, „stehen diese Symptome in direktem Zusammenhang mit der Amnesie. Das an sich wäre nicht das Problem, doch da Ihr Unterbewusstsein die Erinnerung an den Unfall blockiert, waren Sie bisher nicht in der Lage, die Ereignisse zu verarbeiten und Fortschritte zu erzielen.“
    „Aber was ist mit den Ereignissen vor dem Unfall?“ Seine Stimme klang rau wie Sandpapier. „Warum kann ich mich daran nicht erinnern?“
    „Rückwirkende Amnesie ist nichts Ungewöhnliches bei einem Schädeltrauma“, antwortete Dr. Fournier leise. „Wichtig ist in diesem Falle, wie weit der Gedächtnisverlust zurückreicht. Dass es bei Ihnen nur vierundzwanzig Stunden sind, ist ein gutes Zeichen.“
    „So?“ Cristiano lachte hart auf. Er stand vor dem Fenster, eine dunkle Silhouette mit steifen Schultern gegen das letzte Tageslicht. „Werde ich mich je wieder daran erinnern können?“
    „Das lässt sich nicht vorhersagen, und eine Garantie gibt es auch nicht. Manchmal braucht die Erinnerung ihre eigene Zeit, um zurückzukehren.“
    Er fluchte leise auf Italienisch. „Darauf kann ich nicht warten. Die Saison beginnt in sechs Wochen.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Suki hat Sportreporter und Teamsponsoren der ganzen Welt zu dieser lachhaften Comeback-Feier eingeladen. Und Silvio ist plötzlich religiös geworden und dankt dem Herrn jeden Tag für meine wundersame Heilung.“
    Dr. Fournier hielt ihre Stimme bewusst leise. „Haben Sie mit den Leuten gesprochen, mit denen Sie an dem Abend vor dem Unfall zusammen waren? Manchmal braucht es nur den geringsten Auslöser, und alles kommt zurück.“
    Ungeduldig schüttelte Cristiano den Kopf. „Ich bin für die Qualifikation in den Wagen gestiegen, das ist das Letzte, an das ich mich erinnere.“ In Gedanken hatte er es immer und immer wieder abgespielt. Er erinnerte sich, dass er das Visier heruntergeklappt hatte, und dann nichts mehr. Manchmal, kurz vor dem Einschlafen, wollte sich etwas in sein Bewusstsein drängen, wie ein Echo, und er versuchte dann verzweifelt, es zu fassen. Doch je mehr er sich anstrengte, desto flüchtiger wurde es. „Suki hat mir gesagt, dass ich irgendjemandem von Clearspring noch ein Interview gegeben habe, aber das kann nicht lange gedauert haben. Danach muss ich wohl nach Hause gegangen sein.“
    An die Fensterbank gelehnt, stützte er den Kopf in die Hände. Verzweiflung und Selbstverachtung überkamen ihn. Wider alle Chancen hatte er einen tödlichen Unfall überlebt, war nach zehn Tagen aus dem Koma erwacht und hatte sich aus dem Bett der Intensivstation hinters Steuer geschleppt. Er hatte an seiner Kondition gearbeitet, hatte sich erbarmungslos angetrieben, um wieder fit zu werden, mit der gleichen Entschlossenheit und dem gleichen Durchhaltevermögen, das ihn auch vorher schon zum Erfolg geführt hatte.
    Doch jetzt … Alles, wofür er gearbeitet hatte, rann ihm durch die Finger. Und es gab nichts,
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