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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
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die Glocke zu läuten.
    Sie hob die Katze auf ihren Schoß und stieß sich mit den Füßen vom Geländer ab, bis sich der Schaukelstuhl in sanftem, gleichmäßigem Rhythmus – wie eine Wiege für sie beide – im Takt mit der Opferglocke bewegte.
    Mrs Noyes fürchtete ihre eigene Wut und tat in der Dämmerung ihr Möglichstes, um sie zu unterdrücken. Sie fürchtete all das, was sie sagen wollte und vielleicht aussprechen würde; was sie tun wollte und unterlassen musste. Sie fürchtete ihre Unwissenheit: ihre Angst vor alldem, was sie nicht wusste, aber erahnte. Sie fürchtete für das Lamm und für sich – und für Ham und für Mottyl –, sogar für Emma und Emmas Hund. In Wirklichkeit fürchtete sie für jedermann… sogar für Noah. In gleichem Maße wie sie selbst unwissend war, wusste er zu viel. Oder zumindest erweckte er den Anschein. Es gab nichts, was, wie er selbst sagte, er nicht wusste, und das, so schien es Mrs Noyes, war gefährlich. Besonders jetzt, wo die Ordnung ihres Lebens – ihrer aller Leben – so durcheinander geraten war, wo Jahwes Ankunft unmittelbar bevorstand und die ganze Welt im Chaos versunken war.
    Mrs Noyes hasste es, die Geborgenheit ihrer Veranda verlassen zu müssen, aber sie wusste, in wenigen Augenblicken würde ihr nichts anderes übrig bleiben als aufzustehen und der Glocke zu gehorchen, Zeugin der Opferung zu sein – und so ließ sie die Wunder und Katastrophen der letzten Zeit noch einmal Revue passieren.
    Der Sommer war fast zu Ende, und obwohl es noch nicht geregnet hatte, war schon Schnee gefallen. Zumindest hatte es so ausgesehen. Kleine weiße Flocken aus etwas waren vom Himmel gefallen und alle hatten sich auf die Veranda gedrängt, um das Schauspiel zu beobachten. Doktor Noyes hatte sofort von einem Wunder gesprochen und Hannah gerade aufgefordert, das aufzuschreiben, als Ham auf den Rasen hinausging, die Zunge ausstreckte, einige Flocken auffing und den Geschmack prüfte.
    »Kein Schnee«, hatte er gesagt. »Es ist Asche.«
    Da Ham sich in den Naturwissenschaften sehr gut auskannte, neigte auch Mrs Noyes zu der Ansicht, es sei Asche gewesen – aber Doktor Noyes bestand darauf, dass es Schnee sei – »ein Wunder!« Und schließlich hatte er sich durchgesetzt und Hannah aufgetragen zu notieren: HEUTE – EIN BLIZZARD.
    Danach war ein starker heißer Wind aufgekommen, der das ganze Zeug – gleichviel ob Schnee oder Asche – weggefegt hatte und nichts als Beweis zurückließ. Wie auch immer – es war ein unvergesslicher, beunruhigender Anblick gewesen – August und alles weiß.
    Das ganze Jahr schon war eindeutig anders verlaufen als alle anderen. Erst ein paar Wochen zuvor hatten es die Drachen, die aus dem Norden heruntergekommen waren, vorgezogen, ihren Zug mit einer Wanderung auf offener Straße zu beschließen, statt wie sonst durch den Wald zu schleichen. Einer hatte sogar die Frechheit besessen, bis in den Garten zu kommen, die Mauer zu durchbrechen und im Teich herumzutrampeln. Nicht einmal Doktor Noyes konnte erklären, warum die Drachen plötzlich Lust hatten, über die Straßen zu spazieren. In normalen Zeiten hatte jeder, den es in den Süden zog, den Weg durch die Luft genommen – oder war den Flussläufen gefolgt. Keinem war es jemals eingefallen, durch den Garten zu gehen.
    Etwas stimmte nicht, das war ganz sicher. Es lag etwas in der Luft.
    »Denk an all das weiße Zeug, Mottyl!«, sagte Mrs Noyes laut.
    Die Hitze war diesmal heißer gewesen, die Kälte kälter. Ein ganzer Trupp Fische war aus dem Teich gestiegen, den Berg hinuntergewandelt und in den Wald marschiert – und der Strauß hatte aufgehört zu fliegen. Kurz vorher, zur Zeit der Sonnenwende, hatte die Sonne zwei ganze Tage stillgestanden und ein Meteoritensturm hatte den Misthaufen bombardiert und all die Kleinlebewesen darin getötet. Und ausgerechnet heute war laut Ham, dem Himmelsbeobachter, der Morgenstern bis auf die Erde gefallen. Und als ob das alles nicht schon genug wäre, hatte Hannah, die Obstgartenwandlerin, Mrs Noyes erzählt, ein Kormoran habe sich mitten unter den Äpfeln niedergelassen.
    »Was bedeutet das, Mottyl? Was kann es bedeuten?«
    Konnte es sich wirklich um »Wunder« handeln, wie Doktor Noyes andauernd behauptete? Was war es? Diese Ereignisse, die sie in der Dämmerung aufzählte, machten gar nicht den Eindruck, als wären sie Wunder. Es waren düstere Ereignisse, ja: unangenehm, aufwühlend. Furcht, aber nicht Ehrfurcht einflößend. Beim bloßen Gedanken
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