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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
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gehörte, fürchtete sie sich vor dem, was passieren würde, falls er sich weigerte das Opferzeremoniell durchzuführen. Noah könnte alles Mögliche bedenken, um Ham zu bestrafen: ihm das Essen vorenthalten – ihn im Eislager einsperren – ihm sogar Gewalt antun. Sie wusste nicht, wie weit ihr Mann gehen würde. Er war so sehr außer sich – wegen der bevorstehenden Ankunft Jahwes und des mysteriösen Inhalts des Briefes, der offensichtlich schockierend war, obwohl Noah ihn nicht preisgab. Trotzdem – sie sagte nichts, sah nur, wie sich Ham weiter unter die Bäume duckte.
    Hier im Zedernhain beobachtete er die Sterne – im Winter wie im Sommer; er berechnete ihre Bahnen und die Bewegungen der Sternbilder. Dies war Hams Zufluchtsort und hier hatte er gut die Hälfte seines Lebens verbracht, allein mit seinen Gedanken und Notizblöcken.
    Hannah seufzte; sie spürte Ungeduld und war sich der drängenden Zeit nur zu sehr bewusst. »Die Sonne ist fast untergegangen«, sagte sie; »und das Opfer…«
    »Schweig!«, sagte Mrs Noyes. »Sei still!«
    Hannah trug den Kranz vor sich her, den sie angefertigt hatte – den Kragen für das auserwählte Lamm. Die Blumen, die sie zwischen die langen trockenen Gräser und süß duftenden Eselsohren geflochten hatte, waren allesamt blau und gelb. Sie hob den Kranz an ihre Nase, drehte sich um und sah auf den Pfad, der ohne sie den Berg hinaufging.
    Mrs Noyes beobachtete ihren Sohn, der sich – wortlos – auf einen Baumstamm setzte. Er war ebenso blass wie sein Hemd und seine rötlichen Haare wirkten leblos. Er drückte die Hände gegen die hölzerne Fläche, auf der er saß, bis die Knöchel weiß wurden – dann senkte er den Kopf und starrte zu Boden.
    Emma sagte: »Hier ist es schon dunkel.« Und wieder entgegnete Mrs Noyes: »Sei still! Warte!«
    »Ich will Bello«, sagte Emma.
    »Ich sagte, sei still! «, zischte Mrs Noyes. Aber ihre Augen waren weiter bei ihrem Sohn.
    Von all ihren Kindern war Ham der zweite, der am Leben geblieben war. Es war nicht leicht gewesen, ihn so weit zu bringen – bis zum Mannesalter –, und die Mühe, die es gekostet hatte, war an seinen seltsam starrenden Augen und der Blässe seiner Haut ablesbar. Jetzt allerdings war er so stark wie die meisten, die Seuchen und Fieber überlebt hatten: stark im Sinne von Durchhaltevermögen und Widerstandskraft. Als Kind hatte Ham so oft krank und vor Fieber glühend dagelegen – seine Decken von Schweiß durchtränkt –, dass Mrs Noyes glaubte, er würde von Feuer verzehrt werden. Doch er hatte alles glücklich überstanden – und ging daraus hervor mit einer Liebe zum Leben, die so groß war, dass er es nicht fertig brachte, zu töten. Für diese Liebe musste er jetzt den Preis entrichten, denn für seinen Vater bedeutete Liebe und Verehrung zuallererst Gott und weit danach erst alles andere.
    Endlich wurde das Läuten der Glocke schneller. Die Sonne ging schon unter und das Licht auf dem Berg verblasste. Mrs Noyes ging ein paar Schritte auf ihren Sohn zu – sagte nichts, machte ihm aber deutlich, dass die Zeit gekommen war.
    Ham stand auf und schüttelte seine Hände aus. Sie waren taub. Er war weder so groß wie Sem noch so geschmeidig wie Japeth, vielmehr knochig und kantig und gelenkig: widerstandsfähig – aber mager, mit großen Händen und Füßen. Als er vor Mrs Noyes seinen Weg den Berg hinauf fortsetzte, fiel ihr auf, dass sein Hals der längste, der dünnste Hals war, den sie jemals gesehen hatte, und dass sein Rücken – trotz seiner Jugend – alt wirkte.
    Sobald sie die Bäume hinter sich ließen, konnten sie den Altar und die Pinie über sich erkennen – und wie einen Schattenriss Noah, Sem und Japeth. Japeth hielt das Lamm an einer Leine, die er fest gegen sein Bein zog. Sem läutete die Glocke, während Noah – weiß gekleidet – dastand wie eine Ikone; die rituellen Messer und Schüsseln lagen und standen ausgebreitet vor ihm.
    »Ihr kommt spät«, sagte er.
    »Wir wissen es«, sagte Mrs Noyes.
    Die Glocke hatte Erbarmen und verstummte. Sem ging zur Seite; sein Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck, wahrscheinlich schlief er schon halb.
    Japeth lieferte das Lamm am Altar ab, wo ihm Hannahs Kranz um den Hals gelegt wurde. Es war nervös – aber ohne Furcht. Es hatte noch keine Ahnung, warum es da war, und keins der Utensilien des Todes bedeutete ihm etwas. Als es Mrs Noyes erblickte, die seiner Mutter das Singen beigebracht hatte, begrüßte es sie mit einem Erkennungsschrei, und
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