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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
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daran überlief sie – sicher in ihrem Schaukelstuhl sitzend – ein Schauder – er durchlief ihre Finger und reichte bis zu Mottyl, die sofort von ihrem Schoß kletterte und sich in einiger Entfernung hinsetzte. Sie hatte nun endgültig genug von den Schaudern ihrer Herrin.
    Nicht alle diese Geschehnisse waren natürlicher – oder übernatürlicher Art. Ein Teil von ihnen war bewusst erzeugt worden, und das machte sie nur noch beunruhigender. Die Feuer zum Beispiel, die in den Städten brannten, waren größer als normal. Geschürt wurden sie von Übereifrigen, bewacht von Besoffenen; manchmal verdunkelte ihr Rauch den Mond. Nach Aussage der Saisonarbeiter, die es angeblich mit eigenen Augen gesehen hatten, arteten die Feste Baals und Mammons allmählich in wüste Orgien aus. Sie berichteten, man habe dabei ein Menschenopfer gutgeheißen und aus dem Fleisch eine Suppe gekocht.
    Die Bauernknechte, die auf der Suche nach Arbeit von Tal zu Tal zogen, galten zwar als unzuverlässige Informationsquellen, doch für jeden, der stromabwärts lebte, gab es auch Beweise anderer Natur. Lametta, Konfetti und chinesisches Schießpulver aus den Städten verunreinigten die Flüsse. Unter Noyes’ Anwesen wurden Lendenschurze und Kitzelfedern am Ufer angeschwemmt. Am Sonntag zuvor hatte der Himmel mittags knallrot geleuchtet, und man hatte die Hymne an Baal volle zehn Meilen weit hören können.
    Und dann Japeth.
    Japeth Noyes war der jüngste ihrer Söhne und in der Familie der ewig Unzufriedene. Das war aber nicht immer so gewesen. Als er ein Kind war, hatte es keinen gegeben, der mehr Vertrauen zeigte, der begieriger war, alle Vergnügungen des Lebens kennen zu lernen. Doch Zeit und Erfahrung hatten langsam an seinem Vertrauen und an seiner Suche nach dem Glück genagt. Er war dabei, aufzugeben – wenn auch noch nicht ganz – und wurde immer gewalttätiger und gereizter. Auch wenn man ihm in letzter Zeit nicht verübeln konnte, mit der Welt uneins zu sein.
    Etwa zwei Wochen zuvor – Emmas Weigerung, mit ihm zu schlafen und seine eigene Unfähigkeit, die Sache zu erzwingen, hatten ihn zum Wahnsinn getrieben – hatte Japeth sich davongemacht und war der Straße in Richtung Städte gefolgt. Sein Auszug hatte Ähnlichkeit mit den Märchen, die von Burschen erzählten, die zu Hause unglücklich waren und fortgingen, um als Drachentöter und Riesenbezwinger die große Welt zu erobern. Japeths Ziel war es, endgültig seine Männlichkeit beweisen zu dürfen und bei seiner Rückkehr den Drachen, Emmas Jungfräulichkeit nämlich, zu besiegen und den Riesen, der seine Schande war, zu töten.
    Aber so war es nicht gekommen. Japeth war nackt und blau und fast sprachlos nach Hause gekrochen.
    Als er zurückkam – niemand wusste, wohin ihn sein Weg geführt hatte –, stand er offensichtlich unter Schock und weigerte sich, über die Ereignisse während seiner Reise zu sprechen. Er murmelte nur wiederholt »Suppe« und »Eintopf« und »nein – danke – lieber nicht«. Sein Körper war von einer Art Farbe überzogen, deren Geruch Mrs Noyes an eine Desinfektionslösung für Schafe erinnerte. Sie ließ sich nicht abwaschen, ganz gleich, wie oft sie ihn sich schrubben hieß und wie viel Lauge in seiner Seife enthalten war. »Es sieht so aus, als würde unser Sohn für den Rest seines Lebens blau bleiben«, hatte sie zu Doktor Noyes gesagt. »Und seine Haare erst! Hast du seine Haare gesehen?« Sie waren so flockig wie Lammwolle.
    »Vielleicht ließ er sich beim Fest Locken machen«, sagte Doktor Noyes, der das Aussehen seines Sohnes eher lustig als beunruhigend fand.
    »Japeth?«, rief Mrs Noyes. »Japeth würde so etwas nie tun. Seine Freunde würden ihn mit ihrem Lachen aus ihrer Gemeinschaft verstoßen.«
    Das stimmte. Japeth versteckte sich, wenn seine Freunde vorbeikamen. Er wollte nicht mit ihnen mitgehen, sie nicht einmal über den Fluss auf Wildschweinjagd begleiten – dabei war das sein Lieblingssport gewesen. Er kettete seine Wölfe ans Tor und zog sich in seine Hängematte zurück. Ja, irgendwie war die Ordnung der Dinge aus den Fugen geraten.
     
     
    Im Takt der Glocken stiegen sie den Berg hinauf: Ham und Hannah, Emma und Mrs Noyes.
    Vorbei an den Latrinen, dem Badhaus, dem Eislager, der Terrasse mit den Sonnenblumen und in den Zedernhain – wo Ham ohne Warnung stehen blieb, dann den Pfad verließ.
    Mrs Noyes hielt den Atem an – aus Angst, er würde nicht weitergehen; denn obwohl ihre ganze Sympathie ihrem Sohn
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