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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns
Autoren: Polina Daschkowa
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Bühne, die Arme an den Seiten, und sangen mit schwachen, aber angenehmen Stimmen irgendein abgedroschenes
     Liedchen. Er hörte nicht zu. Er vertiefte sich in den Anblick ihrer Gesichter und versuchte, das Fluidum des Erfolgs zu fühlen.
    Erfolg auf der Bühne ist nicht vorhersagbar. Den Publikumsgeschmack kann man nicht berechnen, er läßt sich aber erahnen. Dazu
     braucht man ein besonderes Talent. Wenjamin Wolkow schmeichelte sich mit der Hoffnung, über dies Talent zu verfügen. Heute
     konnte er sich solche Extravaganzen wie »Talent« und »Hoffnung« erlauben. Der Weg dorthin war lang und schwierig gewesen,
     er hatte durch Blut, Schmutz und Bandenkriege geführt; Wenjamin war soviele Male über andere und über sich selbst hinweggeschritten, daß er sich jetzt entspannen und den Intellektuellen spielen
     konnte, jemanden, der an etwas Geheimnisvollem, Erhabenem teilhat.
    Während er an seiner Zigarette zog und an dem dickflüssigen, süßen Milchkaffee nippte, merkte er zu seinem Ärger, daß diese
     Mädchen nur die üblichen Nieten waren. Vielleicht kam ein einzelner brauchbarer Videoclip zustande, wenn man den Kontrast
     zwischen ihnen hervorhob, aber dafür müßte man sie lange dressieren. Solche Mühen waren sie nicht wert.
    »Danke, das reicht.« Er unterbrach ihr Lied und klatschte leicht in die Hände.
    Sie verstummten mitten im Takt.
    »Wenjamin Borissowitsch, dürfen wir noch ein Lied singen?« schlug plötzlich die Blondine vor.
    »Nein, danke. Ich habe genug gehört.«
    »Eins nur!« beharrte sie. »Nur eine Strophe, bitte! Zwei Minuten.«
    »Na gut, legt los«, winkte er ihnen zu – er war zu träge, sie hinauszujagen, und von selbst würden sie nicht gehen, ohne ihre
     Strophe gesungen zu haben.
    »Frühling, geh nicht fort von mir …«
    Die schmächtige Brünette hatte die tiefere und vollere Stimme. Sie begann, die Blondine stimmte ein. Es war eine Romanze aus
     einem Film der siebziger Jahre. Sie klang schön und traurig.
    »Dauert an, ihr gold’nen Tage …«
    Er schloß die Augen und überließ sich den Klängen der Melodie. Von weither kamen Erinnerungen – ein kleines Lagerfeuer am
     steilen Flußufer, eine kurze Juninacht, leichter Frühnebel, der wie zerrissene Spitze über dem Fluß hing, der dichte Stadtpark,
     die Melodie der Romanze:
    »Hoffnung, laß mich nicht im Stich!«
    Sein Herz begann heftig zu klopfen. Seine Handflächenwurden heiß, glühten geradezu. Das Blut pulsierte in den Schläfen.
    Die Mädchen sangen selbstvergessen, ohne zu bemerken, wie sein Gesicht rot anlief, wie seine rechte Hand, die einen Füller
     umklammerte, zitterte. Vor vierzehn Jahren hatte er sich zu den Klängen dieses Liedes erhoben und war unter Aufbietung aller
     Kräfte in die ungewisse Dunkelheit des Stadtparks gelaufen, der geradewegs in die Taiga führte …
    Er drückte mit der Kuppe des Daumens heftig auf die Spitze des goldenen Federhalters. Sie drang tief in die Haut ein, aber
     er spürte keinen Schmerz. Das Blut vermischte sich mit der schwarzen Tinte.
    »Genug«, sagte er dumpf und bemühte sich, ein Zähneklappern zu unterdrücken. »Sie können aufhören. Gehen Sie, ich bin müde.«
    Als sie fort waren, ging er rasch in die winzige Kammer hinter der Bühne, wo die Reste der verstaubten Dekorationen des Theaterzirkels
     standen. Ohne Licht zu machen, verschloß er die Tür von innen und blieb fast eine halbe Stunde im staubigen Dunkel, das nach
     alter Ölfarbe roch.
    Die Sekretärin warf einen vorsichtigen Blick in den leeren Saal, sah die geschlossene Kammertür und entfernte sich auf Zehenspitzen.
     Ihr Chef hatte allerlei sonderbare Angewohnheiten.
    ***
    Krampfhaftes, lautes Schluchzen hallte durch den Andachtsraum des Nikolo-Archangelski-Krematoriums. Katja Sinizyna hatte sich
     über den offenen Sarg geworfen und küßte die eiskalten Hände ihres Mannes.
    »Mitja! Mitjenka! Verzeih mir!« schrie sie, sich immer wieder verschluckend.
    »Bitte beeilen Sie sich, die nächste Trauergemeinde wartetbereits«, wandte sich die Krematoriumsangestellte, eine imposante rothaarige Dame in klassischem schwarzem Kostüm und weißer
     Bluse, mißmutig an die neben ihr stehende Olga.
    Aus unsichtbaren Lautsprechern erklang Bachs Orgelfuge. Olga trat zu Katja, faßte sie um die Schultern, flüsterte ihr etwas
     ins Ohr und versuchte, sie vom Sarg wegzuziehen. Zwei junge Männer, Freunde von Mitja, kamen ihr zu Hilfe, aber Katja ließ
     die toten Finger ihres Mannes nicht los und schluchzte
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