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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns
Autoren: Polina Daschkowa
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sie möchte, einen entsprechenden Antrag
     bei der Staatsanwaltschaft stellen.«
    »Das wird sie auch tun, aber man hat ihr schon deutlich zu verstehen gegeben, daß das nicht viel Sinn macht. Natürlich hat
     sie nicht vor, auf Mörderjagd zu gehen, aber sie möchte gern genau wissen, ob er es selbst getan hat oder nicht.«
    »Dann soll sie einen Privatdetektiv engagieren. Genug Geld hat sie ja.«
    »Vielleicht wird sie das auch tun«, sagte Lena nachdenklich.

Kapitel 4
    »Wenjamin Borissowitsch, draußen wartet noch das Duo ›Butterfly‹«, sagte die ältliche Sekretärin im rosa Wollkostüm.
    Abwehrend schüttelte er den Kopf. »Sagen Sie ihnen, sie sollen übermorgen wiederkommen. Oder noch besser am Montag um elf.«
    »Wenjamin Borissowitsch, Sie vertrösten sie schon seit anderthalb Monaten. Sehen Sie sich die beiden doch wenigstens einmal
     an, es sind nette Mädchen, Ehrenwort.«
    Das Duo »Butterfly« – Ira und Lera, beide achtzehn Jahre alt – kam tatsächlich schon seit anderthalb Monaten zum Vorsingen,
     aber er hatte noch kein einziges Mal Zeit und Kraft für sie gefunden.
    In diesen vierzig Tagen hatte die Sekretärin Inna Jewgenjewna alle möglichen Geschenke von ihnen erhalten – von großen Pralinenschachteln
     mit Mozartkugeln bis zu Chanel-Parfum. Aber heute war die blonde Ira, die gewandtere und praktischere der beiden, auf die
     Idee gekommen, Inna Jewgenjewna einfach einen weißen Briefumschlag mit drei Hundertdollarscheinen in die Tasche ihrer eleganten
     rosa Kostümjacke zu schieben.
    »Wenjamin Borissowitsch«, drängte die Sekretärin, »es sind ungewöhnliche Mädchen, werfen Sie doch einen Blick auf sie. Solche
     Typen sind heute gefragt.«
    »Na gut«, sagte er seufzend, »bringen Sie mir Kaffee, und schicken Sie sie herein.«
    Das Vorsingen von Anfängern war der schwerste und undankbarste Teil seiner Arbeit. Immer wenn er in dem kleinen Zuschauersaal
     des ehemaligen Klubhauses der Jungen Pioniere saß, fühlte er sich wie ein Goldgräber, der beharrlich das wertlose Geröll auf
     der Suche nach allerfeinsten Goldkörnchen durchsiebt. Wenn sich dann aber solch seltene Körnchen fanden, dann entschädigten
     sie ihnreichlich für die Müdigkeit und das Ohrensausen, die ihm die schlechten Stimmen und aufdringlichen Melodien verursachten.
    Das einstöckige Haus vom Ende des 18. Jahrhunderts im Moskauer Stadtzentrum hatte er vor drei Jahren gekauft. Bei der Restaurierung
     und Ausstattung der hölzernen, fast vollständig durchgefaulten Kaufmannsvilla, die wie durch ein Wunder die Zeit nach dem
     Brand von 1812 überstanden hatte, war an Geld nicht gespart worden. Jetzt befanden sich hier ein Büro, ein Aufnahmestudio
     und ein Schneideraum, solide und komfortable Räume. Manchmal wurden hier auch Videoclips produziert.
    Der wacklige kleine Holzzaun war durch ein hohes gußeisernes Gitter ersetzt worden, am Tor hatte man ein beheiztes Wachhäuschen
     mit Toilette aufgestellt, das rund um die Uhr besetzt war. Kein Firmenschild wies darauf hin, aber halb Moskau wußte es: Hier
     befand sich eins von fünf Studios des berühmten Show-Konzerns »Wenjamin«.
    Innen war das Haus komplett erneuert worden. Alles funkelte und blitzte, wie man es in den Geschäftsräumen eines milliardenschweren
     Konzerns erwartete. Einen Raum aber hatte Wenjamin Wolkow unangetastet gelassen.
    Im vorigen und vorvorigen Jahrhundert war das größte Zimmer im Haus das Empfangszimmer der früheren Besitzer – der alteingesessenen
     Kaufmannsfamilie Kalaschnikow, die mit Tuch- und Kattunhandel reich geworden war. Seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts
     wurde das Haus als Klubhaus der Jungen Pioniere genutzt, und das ehemalige Empfangszimmer diente als Zuschauersaal. Bis Anfang
     der neunziger Jahre hatten ein Theaterzirkel und eine Volkstanzgruppe hier ihr Domizil.
    An den Wänden, die mit allerlei Pioniersymbolen wie Hochöfen, Flaggen und ähnlichem bemalt waren, verlief eine lackierte,
     mit der Zeit dunkel gewordene Ballettstange. Zu der kleinen Bretterbühne führten zwei Stufen, die Tausendevon Kinderfüßen blank gerieben hatten. Hinter der Bühne befand sich eine winzige fensterlose Kammer, in der immer noch Reste
     der Sperrholzdekorationen aufbewahrt wurden.
    In diesem Saal, so verfügte er, durfte nichts angerührt werden. Es war eine Marotte – dieser schäbige Saal, das ermüdende
     Vorsingen, eine Laune, die er sich jetzt erlauben konnte.
    Früher einmal, vor langer Zeit und in einem
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