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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns
Autoren: Polina Daschkowa
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laut weiter.
    Lena stand neben der achtzigjährigen Großmutter des Toten, Sinaida Lukinitschna. Bis zu diesem Moment hatte die alte Frau
     sich erstaunlich tapfer gehalten. Aber Katjas Schluchzen war zuviel für sie, und langsam sackte sie in sich zusammen. Lena
     konnte sie gerade noch auffangen und fragte leise:
    »Sinaida Lukinitschna, was haben Sie, das Herz?«
    »Nein, Kindchen«, flüsterte die alte Frau, »mir ist nur schwindlig.«
    Olga hatte Lena eben wegen der Großmutter gebeten, zur Beerdigung zu kommen.
    »Ich bleibe bei meinen Eltern«, hatte sie erklärt, »und seine Frau wird bestimmt eine hysterische Szene machen. Außerdem muß
     ich alles organisieren. Entschuldige, ich weiß ja, dein Sergej fliegt nach England, aber ich kann die Oma niemandem sonst
     anvertrauen, nur dir. Ich habe Angst um sie, schließlich ist sie nicht mehr die Jüngste. Du hast immer einen beruhigenden
     Einfluß auf sie gehabt.«
    »Liebe Angehörige«, sagte, mit einem Blick auf ihre Uhr, die Krematoriumsdame mit gut geschulter Stimme, »wenn sich noch jemand
     von dem Verstorbenen verabschieden möchte, treten Sie bitte näher. Nur bitte, beeilen Sie sich.«
    Durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür des Saales spähtenbereits die Verwandten des folgenden Verstorbenen herein. Und nach ihnen würden weitere kommen, und wieder andere, und so
     vom Morgen bis zum Abend. Wie am Fließband.
    »Lenotschka, Kindchen, hilf mir zu ihm«, bat Sinaida Lukinitschna.
    Lena faßte die alte Frau beim Ellbogen und führte sie vorsichtig zum Sarg. Sinaida Lukinitschna streichelte mit ihrer runzligen
     Hand über die blonden Locken ihres toten Enkels, küßte ihn auf die eisige Stirn und bekreuzigte ihn.
    »Bürger, es wird Zeit!« erklang hinter ihnen die Stimme der Krematoriumsdame.
    »Nur noch einen Augenblick, bitte.« Olga schob ihr mit einer raschen Bewegung einen weiteren Geldschein in die Hand.
    »Mir ist’s egal«, sagte die Dame etwas freundlicher und leiser. »Aber die nächsten warten schon.«
    Lena hatte noch nie das Gesicht eines Selbstmörders gesehen. Es erstaunte sie, daß Mitjas Gesicht ruhig und friedlich war,
     als sei er einfach eingeschlafen.
    »Herr, verzeih ihm, verzeih ihm, Herr!« flüsterte Sinaida Lukinitschna. »Er wußte nicht, was er tat …«
    Lena umarmte die zitternden Schultern der alten Frau.
    Mein Gott, meine Nerven sind doch auch nicht aus Stahl, dachte sie.
    Plötzlich fiel ihr Blick auf Mitjas Hände, große, kräftige Hände mit den biegsamen Fingern des professionellen Gitarristen.
     Auf der rechten Hand bemerkte sie einige dünne Kratzer. Offenbar hatte Mitja sich unmittelbar vor seinem Tod noch verletzt.
     Sie schaute genauer hin und bemerkte mehrere punktförmige Einstiche in den Vertiefungen zwischen den Fingern und auf dem Handrücken.
     Ja, das waren die Spuren einer Nadel. Polizei und Ärzte hatten es sofort gesehen und zu Olga gesagt: »Ihr Bruder wardrogensüchtig.« Aber warum befanden sich die Spuren der Nadel auf der rechten Hand? Mitja war kein Linkshänder gewesen, das
     wußte Lena genau.
    In der Wohnung der Sinizyns hatten sich eine Menge Leute versammelt. Es herrschte eine Atmosphäre gedämpfter Geschäftigkeit.
     Man setzte sich zu Tisch, bemüht, die Stühle möglichst leise zu rücken; auch die Unterhaltung wurde halblaut geführt.
    Katja war wieder in hysterisches Schluchzen ausgebrochen.
    »Lena, bring sie nach draußen auf die Treppe, ich bitte dich«, flüsterte Olga, »geh mit ihr eine rauchen, dann kann sie sich
     ungestört eine Spritze setzen, mir fehlt die Kraft, das noch länger anzuhören.«
    Lena fühlte sich von ihren Worten unangenehm berührt. Immerhin hatte Katja ihren Mann verloren, mit dem sie acht Jahre zusammen
     gelebt hatte, sie selbst hatte ihn aus der Schlinge ziehen müssen. Man konnte doch nicht alle ihre Gefühlsausbrüche den Drogen
     zuschreiben.
    »Hier ist ihre Tasche.« Olga reichte Lena eine abgeschabte kleine Lederhandtasche. »Da ist alles drin.«
    Als sich die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen hatte, holte Lena eine Packung Zigaretten heraus. Es fiel ihr schwer, zu
     einer fast unbekannten Frau zu sagen: »Quäl dich nicht, meine Liebe, setz dir eine Spritze, genier dich nicht vor mir, ich
     weiß alles.«
    Katja zog gierig an der Zigarette und bemerkte erst jetzt die Tasche, die an Lenas Arm baumelte. Ihre Tränen versiegten, und
     ihre Augen begannen zu funkeln.
    »Katja«, sagte Lena sanft, »kannst du es nicht noch ein wenig
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