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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns
Autoren: Polina Daschkowa
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aushalten?«
    »Wenn es dir unangenehm ist zuzusehen, kannst du dich ja umdrehen«, sagte Katja und leckte sich nervös die Lippen.
    »Na schön.« Lena seufzte. »Aber laß uns noch ein bißchen höher gehen, da können wir uns zwischen den Etagen ans Fenster stellen.
     Sonst kommt womöglich noch der Aufzug, und jemand sieht uns.«
    »Du kannst ja hier stehenbleiben, wenn du willst, und ich gehe nach oben«, bot Katja an.
    »Ja, vielleicht ist das besser.«
    Katja huschte die Stufen hinauf und kam fast sofort zurück – mit einem ruhigen, abgeklärten Gesichtsausdruck. Sogar eine leichte
     Röte belebte ihre Wangen.
    »Gibst du mir noch eine Zigarette?« fragte sie.
    Lena reichte Katja das Päckchen und bemerkte auf ihrer mageren kleinen Hand dünne Kratzer und auf den bläulich hervortretenden
     Adern kleine Punkte. Aber es war ihre linke Hand.
    »Katja, kannst du mir sagen, wann sich Mitja die Hand zerkratzt hat?«
    »Die Hand?« Katja blinzelte verständnislos. »Welche Hand? Du meinst, er hätte sich gespritzt, so wie ich, egal wohin?«
    »Ich meine gar nichts, ich frage nur.« Lena zuckte die Schultern. »Es ist jetzt auch nicht mehr wichtig.«
    »Nein.« Katja schüttelte ihren kurzgeschnittenen Kopf. »Und ob es wichtig ist. Mitja hat nicht gespritzt. Niemals, kein einziges
     Mal. Er hat Drogen gehaßt. Alles ist nur meine Schuld. Ich habe ihn so weit gebracht, ich konnte keine Kinder bekommen, ich
     habe immer Geld gefordert, und er hat alles ertragen, weil er mich liebte.«
    Lena erschrak: Gleich würde sie wieder einen hysterischen Anfall bekommen, trotz der Spritze. Es wird Zeit, daß ich nach Hause
     fahre, dachte sie bekümmert. Sergej kommt bald von der Arbeit, holt Lisa bei Vera Fjodorowna ab, sie werden auf mich warten.
    »Warum spritzt du dir nicht in den Arm, sondern in dieHand?« fragte sie und dachte sofort: Warum frage ich das? Welche Bedeutung hat es für mich?
    Katja schob schweigend den Ärmel ihres Pullis hoch und zeigte Lena ihre Armbeuge – eine riesige schwarzblaue Beule mit feinen
     Punkten aus angetrockneter brauner Kruste. Eine heiße Welle von Mitleid überkam Lena, Mitleid mit diesem kleinen, mageren
     Mädchen, das jetzt völlig allein auf der Welt war.
    Katjas Eltern lebten irgendwo in Sibirien, in Magadan oder in Chabarowsk, sie waren seit langem geschieden, der Vater war
     Alkoholiker, die Mutter hatte eine neue Familie, für Katja interessierte sie sich nicht mehr. Lena fiel ein, wie ihr Mitja
     das alles einmal erzählt hatte, vor langer, langer Zeit. Sie hatte sich damals für ihn gefreut – er strahlte vor Glück, als
     er ihr von seiner Frau Katja erzählte. Er hatte sie wirklich sehr geliebt.
    Jetzt brauchte diese unglückliche Fixerin niemand mehr. Olga jedenfalls würde sich bestimmt nicht weiter mit ihr abgeben.
     Sie hatte es nur Mitja zuliebe getan.
    »Wie hat das alles angefangen?« fragte Lena leise.
    »Nach der dritten Fehlgeburt«, erwiderte Katja ruhig. »Vorher habe ich nie gespritzt und auch nicht getrunken oder geraucht.
     Mitja und ich wollten so schrecklich gern ein Kind. Nach dem dritten Mal hieß es: Aus, vorbei, nichts geht mehr. Nicht einmal
     künstliche Befruchtung. Da habe ich angefangen zu spritzen. Ein Bekannter hatte Mitleid mit mir und ließ mich probieren. Einmal
     und nie wieder, hab ich gedacht – nur um zu vergessen. Na, was soll’s. Genug geschwatzt.« Katja winkte ab. »Dir kann das doch
     egal sein, ich bin für dich ein Niemand, genau wie du für mich. Was kriechst du mir in die Seele? Ich bin ein Stück Dreck,
     eine Fixerin, und du bist eine anständige, ordentliche Frau, du hast einen Mann und ein Kind. Ich brauche dein Mitleid nicht.
     Gib mir lieber Geld. Von Olga kriege ich jetzt keins mehr. Der muß ich dankbar sein, wenn sie mich nicht ausder Wohnung wirft. Sie war es ja, die uns die Wohnung gekauft hat.«
    Du lieber Himmel! Jetzt reicht’s aber! dachte Lena. Das ist ja schlimmer als bei Dostojewski.
    ***
    Am späten Abend stand Katja Sinizyna in Slip und T-Shirt unter der Dusche. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht und vermischten
     sich mit dem heißen Wasser. Sie war müde vom Weinen, konnte aber nicht aufhören. Erst jetzt begriff sie, was geschehen war.
    Mitja war tot, und ihr Leben war sinnlos geworden. Wer brauchte sie jetzt noch? Ihr Vorrat an Drogen würde sehr bald zu Ende
     sein, und Geld, um neue zu kaufen, würde sie nicht bekommen. Wenn Olga sie nicht aus der Wohnung jagte, könnte sie vielleicht
     ein Zimmer
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