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Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)

Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)

Titel: Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
Autoren: Frank Demant
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Hänschen sei ein Blindgänger und seiner sowieso unwürdig. Heute dachte Herr Schweitzer manchmal, wie unfertig ihre Charaktere einst doch waren. Er selbst hatte sein Selbstbewußtsein erst entwikkeln können, nachdem sich zur Oberstufe hin seine Geistesgaben offenbart hatten. Dazu muß gesagt werden, daß vor vierzig Jahren die Fettsucht in den Industrieländern noch in den Kinderschuhen steckte und man als übergewichtiges, unsportliches Etwas einen echt schweren Stand hatte. In der heutigen Zeit wäre ein kleiner Dickmops Schweitzer nur einer unter vielen.
    Nach zwei Stunden war das für das leibliche Wohl vorgesehene Büffet wie leergefegt. Äpfel und Orangen gab es keine, und Herr Schweitzer hatte einstimmig für den Abbruch seiner Diät votiert. Vielleicht wäre es anders gelaufen, hätte ihn der üppig aufgefahrene Rehbraten nicht so angelächelt. So aber hatte er nicht lange gefackelt und so viel in sich hineingeschaufelt, daß die Gußform des fleischwurstrosafarbenen Hemdes kurz vor der Zerreißprobe stand. Wieder und wieder wurde Bier geordert, und Herr Schweitzer war in ein Gespräch mit einigen Mitschülerinnen von einst vertieft. Die Duftnote Ladykiller ist ein Volltreffer, dachte er noch, die werde ich demnächst mal bei Maria ausprobieren. Der in diesen Dingen ungeübte Herr Schweitzer wußte nicht, daß sich der Geruch eines derartig billigen Wässerchens schon nach kurzer Zeit verflüchtigte. Er war gerade dabei, den aufgedonnerten Damen die vergangenen zehn Jahre seiner Vita seit dem letzten Klassentreffen zu skizzieren, als jemand vehement mit einem Löffel auf ein leeres Glas eindrosch. Ihre ehemalige Klassensprecherin und Ausschußvorsitzende hatte eine kleine Rede vorbereitet.
    Doch Herr Schweitzer hörte dem ohnehin belanglosen Geschwätz von Claudia Heerenkoop nicht zu, die schon in den sechziger Jahren aussah, als hätte ihre Mutter etwas mit einem Außerirdischen gehabt, oder, um es mit Eschenbach zu sagen: Um ihrer Minne brachen Ritter selten ihren Speer in Splitter. Daran konnten auch ihre amethystblauen Augen nichts ändern. Vollkommen richtig vermutete Simon Schweitzer, daß die vierfache Mutter und Grünen-Abgeordnete Heerenkoop in ihrer Freizeit am liebsten malte, Stil naiv, und in heimeliger Runde Gleichgesinnter gewaltfreien Aprikosentee servierte. Kurzum, sie hatte immens einen an der Erbse. Während der Rede gedachte Herr Schweitzer dem Augenblick, als er sich das erste und letzte Mal eine Ohrfeige, eine weibliche obendrein, eingefangen hatte. Es muß so in der sechsten oder siebten Klasse gewesen sein, Claudia Heerenkoop hatte sich gebückt, um etwas in ihrem mit Friedensaufklebern übersäten Ranzen zu suchen, wodurch zwischen Hosenbund und nackter Haut ein ansehnlicher Spalt klaffte, der den lütten Simon dazu verführte, den nassen Schwamm, den er gerade des Tafeldienstes wegen in der Hand hielt, auszudrücken. Mal ganz ehrlich, welcher Junge hätte da widerstehen können? Wie auch immer, die Ohrfeige, die folgte, war nicht von schlechten Eltern, und Simons Wange glühte noch tagelang. Seiner Mutter hatte er dann weiszumachen versucht, ein Turnunfall trage hierfür die Verantwortung. Geglaubt hatte sie es nicht wirklich, dafür kannte sie ihren Schlingel zu gut. Herr Schweitzer mußte schmunzeln. Am aufbrandenden Beifall merkte er, daß Heerenkoops Vortrag beendet war. Der Form halber klatschte er mit.
    Zu vorgerückter Stunde babbelte er noch mit jenem und diesem, darauf verstand er sich seit jeher ausgezeichnet, und weil dann noch mit Schnäpsen auf die guten alten Zeiten angestoßen wurde, mußte er widerwillig querbeet saufen, was ihm nicht sonderlich gut bekam. Er ward voll und voller.
    Gänzlich manövrierunfähig lag er auf seinem Bett, als er weit nach der Mittagsstunde eines seiner blutunterlaufenen Augen öffnete. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, wie er nach Hause gekommen war. Herrn Schweitzer war speiübel, und noch immer drehte sich alles. Sein Kreislauf war so gut wie nicht vorhanden. Aber es war immerhin sein Bett, so viel stand mal fest. Ein indisches Sprichwort besagte, tadle nicht den Fluß, wenn du ins Wasser fällst. Genau das tat er aber. Scheiß Bier. Scheiß Schnaps. Scheiß Puppen, die ich wieder mal habe tanzen lassen müssen, gerade so, als kenne ich die Fallstricke des Alkohols nicht. Ohne den Druck auf seiner Blase wäre Herr Schweitzer noch stundenlang so liegen geblieben. Mit gebeugten Schultern schlich er zur Toilette. Tunlichst vermied
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