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Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)

Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)

Titel: Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
Autoren: Frank Demant
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träumen lassen. Wissen Sie, ich war mal reich.“
    Ja, dachte er, wir waren alle mal reicher als heute. Doch das sagte er nicht.
    Und tatsächlich, der Nachbar schlief wieder ein. Er hatte das Gefühl, der einzige zu sein, der wachte. Er fand es erstaunlich, wie wenig Schnarchgeräusche in einem Raum, so vollgestopft mit Menschen, zu hören waren. Noch im Schlaf verfolgte sie die Angst, Mißfallen auf sich zu ziehen. Wie tief ins Unterbewußtsein sie doch mit ihrem Haß hatten dringen können. Als ihm das klar wurde, schwor er sich, die Flucht doch noch in die Wege zu leiten. Er dachte an die Bündel von Reichsmark, die in seinem Versteck unter einer Bohle auf dem Dachboden auf eine sinnvolle Verwendung warteten. Bei dieser Vorstellung mußte er erstmals seit seiner Trennung von der Familie lächeln. Wie lebensunfähig ich doch bin, dachte er, da horte ich all die Jahre jeden Pfennig und weiß nicht einmal wofür. Notgroschen in Notzeiten nicht auszugeben, das paßte zu ihm. Hätte Miriam, die vom Geld wußte, doch nur ein wenig gedrängt, dann läge er jetzt nicht hier. Und dann fiel ihm ein, daß sie ihm auf ihre Art ihr Mißfallen an der gemeinsamen Lage mit Blicken, die er nur hätte deuten müssen, zu verstehen gegeben hatte. Er schloß die Augen. Tiefe Trauer übermannte ihn. Nie zuvor war eine Nacht schwärzer gewesen. Nie zuvor hatte er sich so hundeelend gefühlt. Er war ein Trottel, wie man ihn ein zweites Mal vergeblich suchte. Und dennoch, lag er hier nicht inmitten all jener, die ein ähnliches Schicksal erwartete? Würde die Härte dessen, was vielleicht bei Sonnenaufgang auf sie zukommen würde, nicht dadurch abgemildert, daß sie hier so viele waren? Und zeugten die meist widersprüchlichen Gerüchte, was mit den Juden geschehen sollte, nicht davon, daß an ihnen gar nichts dran war? Umsiedlung, so ein Unfug, das würde doch nie funktionieren. Außerdem war seine Familie noch zu Hause. Wenn schon, dann hätte sie doch mitkommen müssen. Nein, diese Gerüchte entbehrten jeder Grundlage.
    Zu allem Ungemach drückte jetzt auch noch die Blase, dabei hatte er seit Stunden nichts getrunken. Einfach aufzustehen und die Wärter nach der Toilette zu fragen, kam nicht in Frage, zu groß war die Gefahr, zusammengeschlagen zu werden, so wie der Tote neben ihm. Aus nichtigem Anlaß, wie er annahm, denn dabeigewesen war er nicht. Auf allen Vieren war er die letzten Meter gekrochen und dann zusammengesackt. Bestimmt hielten sie sich strikt an die Vorschriften. Fünf Uhr gemeinsames Austreten, danach Waschen und antreten zum Frühstück. So lange mußte er eben noch aushalten. Der Lärmpegel über ihm war gestiegen. Obst und Gemüse mußten an die Frankfurter Bevölkerung verteilt werden. Welche Produkte wurden eigentlich im Oktober umgeschlagen? Erdbeeren bestimmt nicht. Kartoffeln? Er wußte es nicht. Wie er überhaupt sehr wenig über die praktischen Dinge des Lebens wußte. Doch der Drang zu urinieren nahm nicht ab. Und wenn er einfach in die Hose pinkelte? Aber dann würden sie ihn gerade deswegen bestrafen. Da kam ihm ein Gedanke: Tote entleeren sich doch, sobald die Muskeln erschlafften.
    Hektische Bewegungen vermeidend öffnete er die Knöpfe und schob das Gummiband der Unterhose unter seine Hoden. Er rückte so dicht, wie es sein Ekel zuließ, an die Leiche heran. Doch er konnte nicht sofort. Durch gleichmäßiges Atmen entspannte er sich soweit, daß es zu tröpfeln begann. Minuten verstrichen, ehe er fertig war. Beschämt zog er sich zurück. So weit hatten sie ihn also gebracht. Um ihn gänzlich zu brechen, brauchte es nicht viel, Drohungen würden genügen. Er konnte nur beten, daß sie keine allzu großen Anforderungen an ihn stellten. Er gehörte hier eindeutig zu den Schwächeren.
    Später döste er ein wenig, streifte immer wieder die Oberfläche seiner trüben Gedanken.
    Obwohl es nur ganz normale Lampen mit schwarzen Metallschirmen waren, kamen sie ihm wie grelle Scheinwerfer vor. Mit der aufflammenden Helligkeit gingen gebellte Schreie einher, die die Schlafenden zum Aufstehen aufforderten. Er gehörte zu den ersten, die auf den wackeligen Matratzen das Gleichgewicht zu halten versuchten. Dann wurden Namen aufgerufen, und die Betreffenden mußten heraustreten. Bei Benzion Levi kam die Aktion ins Stocken. Wieder und wieder und zunehmend aggressiver wurde der Name gerufen. Er hoffte, dieser Levi würde sich endlich melden, bevor sie alle darunter zu leiden hatten. Aber was, wenn Levi der Tote zu
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