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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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erfahren sollte, in einer Art Geständnis seiner Mutter endeten. Doch das Buch, das Marianne meinem Vater aus der Bibliothek der Kaserne mitgebracht hatte, hatte seine Phantasie am meisten beflügelt. Von jetzt an sah er auch seinen Vater in den Reihen der Anders-Armee marschieren.

 
    |36| I n Romanen, in denen es um Familien und ihre Geschichte geht, wird gerne ein bestimmter Moment beschrieben, an dem der Erzähler unvermittelt Einsicht in eine dunkle Vergangenheit erhält. Es kann die unabsichtliche Bemerkung eines Verwandten sein, ein altes, längst vergessen geglaubtes Foto, das ein neues Licht auf den Vater oder den Großvater, die Mutter oder die Großmutter wirft. Ich habe diesen Moment nie erlebt. Alles hatte offen zutage gelegen. Ich hatte das Geflecht von widersprüchlichen Geschichten und einzelnen, unverbundenen Erinnerungen einfach nur lange Zeit nicht hinterfragt.
    Ich war dreiunddreißig Jahre alt, als ich zum ersten Mal nach Polen kam. Ich hatte ein Stipendium bekommen und verbrachte drei Monate im Gästehaus einer alten Villa am Stadtrand von Krakau. Ich verbrachte die Tage auf meinem Zimmer, sah auf die Bäume des Parks, der sich vor meinem Fenster erstreckte, und versuchte zu arbeiten. Ich wollte Schriftsteller werden, aber ich hatte nie vorgehabt, ein Buch über Józef zu schreiben. Für mich war mein polnischer Großvater bislang nichts als eine Phantasiefigur gewesen, ein Held aus einer Erzählung, die mich als Kind gefesselt und die dann ihre Anziehungskraft verloren hatte.
    Damals in Krakau saß ich an einem Band mit Kurzgeschichten, über Menschen, die in großen Städten lebten, |37| über die kleinen Lügen, die ihren Alltag zusammenhielten, und über ihre Beziehungen, die meist wortlos endeten. Abends traf ich mich mit den anderen Stipendiaten in der Küche im Erdgeschoss des Gästehauses. Wir waren zu sechst, Deutsche, Ukrainer und Polen. Wir tranken Bier und Wodka mit Apfelsaft und bemühten uns, nicht über die Arbeit zu sprechen, die wir tagsüber hinter verschlossenen Türen verrichteten. Trotzdem ging es spät am Abend dann doch immer wieder darum, ob die Literatur die Wirklichkeit abbilden solle oder sie neu erfinden müsse. Oft redeten wir die ganze Nacht hindurch, in betrunkenem Englisch, bis der Rauch unserer Zigaretten den Feuermelder in dem denkmalgeschützten Gebäude auslöste. Es war eine Frage, auf die es keine Antwort gab.
     
    Kurz bevor ich nach Polen gefahren war, hatte mein Vater mir die Zigarrenkiste gegeben, in der er Józefs Briefe und Postkarten aufhob. Als Kind hatte ich die Schachtel immer wieder in der Hand gehabt, wenn ich im Arbeitszimmer meines Vaters spielte und nacheinander die Schubladen seines Schreibtischs aufzog, während er, der Lehrer geworden war, über Unterrichtsvorbereitungen und Korrekturen saß. Sogar der leichte Tabakgeruch, kühl und bitter, der nach all den Jahren immer noch an ihr haftete, kam mir vertraut vor. Und trotzdem hatte ich nicht gewusst, dass mein Vater und Józef über zehn Jahre hinweg Briefe gewechselt hatten, von 1973 bis 1984, genau in der Zeit, in der mein Vater mir von Fürstenau erzählt hatte und von dem Vater, den er selbst angeblich nie gehabt hatte. Alles war längst da, doch nichts passte zusammen.
    Einen der Briefe hatte ich mit nach Polen genommen. |38|
Józef Koźlik, ulica Jagusia 5, Steblów, Lubliniec
stand als Absender auf der Rückseite des Umschlags, aber ich hatte die Fahrt während meiner Zeit in Krakau immer wieder aufgeschoben. Ausreden fanden sich leicht, die zähe Arbeit an den Kurzgeschichten, die endlosen Gespräche über Literatur, die Altstadt mit ihren Kirchen, Museen und Plätzen, von denen ich bisher kaum etwas gesehen hatte, oder ein gemeinsamer Ausflug nach Auschwitz und Birkenau, wo wir schweigend vor den Trümmern der gesprengten Gaskammern standen.
    Am letzten Wochenende machte ich mich dann doch noch auf den Weg. Ich mied die Autobahn, auf der ich drei Monate zuvor hergekommen war, und fuhr stattdessen über die Landstraße, die von Krakau aus über Olkusz in das oberschlesische Industriegebiet mit seinen Bergwerken und Stahlfabriken führte. Ich sah Schornsteine und Fördertürme, alte Schuppen und graue Mietshäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert, schmutzige Fabrikhallen und bunt getünchte Plattenbauten. Ich fuhr an einer Stadt namens Siemianowice Śląskie vorbei, ohne zu wissen, dass Józef dort seine Kindheit verbracht hatte. Nachdem ich mich mehrmals verfahren hatte, fand ich
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