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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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Teil von Mariannes Leben. Auf der Weihnachtsfeier der Einheit freundete sie sich mit der Frau des Hauptmanns an und besuchte mit ihr und den anderen Ehefrauen der Soldaten die Kameradschaftsabende der Unteroffiziere. Einer der Gruppenführer, ein gelernter Friseur, wurde am Samstagnachmittag ins Haus bestellt, um Marianne und Anna die Haare zu richten, und der Spieß, ein großer, kräftiger Mann, half bei schweren Arbeiten im Garten aus.
    In der Kaserne von Fürstenau gab es eine Truppen-Bibliothek, ein kleines Zimmer neben einem der Aufenthaltsräume für die Mannschaften, und mein Vater drängte Marianne, ihm aus diesen Beständen etwas zum Lesen mitzubringen. Eines Abends kam sie tatsächlich mit einem dicken, hellblau eingebundenen Buch nach Hause. Es war eines der vielen Erinnerungsbücher an die Schlachten des Zweiten Weltkriegs, die in den fünfziger Jahren erschienen, |33| und handelte vom Kampf um das italienische Kloster Monte Cassino.
    Mein Vater teilte sich nun nicht mehr das Bett mit seiner Mutter. Nach dem Tod der Urgroßmutter hatte er im ersten Stock des Hauses sein eigenes Zimmer bekommen. Hierher zog er sich zurück, um das Buch an einem einzigen Wochenende zu verschlingen. Neben ihm lag der aufgeschlagene Schulatlas. Mein Vater suchte die nordafrikanischen Häfen, von denen aus die Schleppzüge mit den britischen und amerikanischen Einheiten im Juli 1943 nach Sizilien übersetzten, er verfolgte den Weg der deutschen Einheiten, die hastig in Italien zusammengezogen wurden, um eine Verteidigungslinie zwischen Rom und Neapel aufzubauen, und er markierte den wichtigsten strategischen Punkt dieser Linie mit dem Bleistift, den 513 Meter hohen Klosterberg Monte Cassino, um den deutsche und alliierte Streitkräfte vier Monate lang kämpfen sollten. Die letzten, entscheidenden Gefechte fanden im Mai des Jahres 1944 statt. Diese Passagen studierte mein Vater, dem das Wort »Polenkind« immer noch in den Ohren lag, noch genauer als den Rest des Buches.
    Auch ich habe das Buch gelesen. Ich hatte während meiner Recherchen zum Leben meines Großvaters bei einem Antiquar eine alte Ausgabe entdeckt, und der Inhalt kam mir vertraut vor, zumindest ein Teil davon. Im Jahre 1941 hatte die polnische Exilregierung ein Abkommen mit der Sowjetunion ausgehandelt. Der General Władysław Anders bekam die Erlaubnis, in Russland aus Kriegsgefangenen eine Armee zusammenzustellen. Die Rekruten, die aus ihren Lagern am Eismeer und in Sibirien entlassen worden waren, sammelten sich in Busuluk an der Wolga und Jangijul in Usbekistan, |34| in Tozkoje und Tatischtschewo, um mit den Schiffen der russischen Kriegsmarine über das Kaspische Meer in die iranische Hafenstadt Bandar Pahlavi gebracht zu werden.
    In Khanaquin befand sich ein Ausbildungslager der britischen Armee. Hier wurden die Soldaten, die aus Russland kamen, mit den Resten der polnischen Armee vereinigt. Einzelne Einheiten hatten sich nach der Niederlage gegen die Wehrmacht im Winter 1939 über den Balkan bis nach Griechenland durchgeschlagen und weiter bis in das britische Mandatsgebiet Palästina. Im Iran wurde das II. Polnische Korps aufgestellt, das bald nur noch
Armia Andersa
genannt wurde, die Anders-Armee. Die Soldaten wurden nach Kairo verlegt, um in Nordafrika drei Jahre lang mit den Briten gegen deutsche und italienische Truppen zu kämpfen, unter anderem in Tobruk.
    Im Frühjahr 1944 wurden sie nach Italien beordert. Die polnischen Soldaten sollten die stark befestigten deutschen Stellungen rund um das Kloster Monte Cassino stürmen, an denen englische und amerikanische, französische, indische und neuseeländische Einheiten in den Monaten zuvor gescheitert waren. Es gelang ihnen, wenn auch unter schweren Verlusten. Am frühen Morgen des 18. Mai wehte die polnische Fahne über den Trümmern des Klosters. Ein knappes Jahr später, auch das stand in dem Buch, sollte ein Teil der Anders-Armee im Gefolge der britischen Armee im Norden Deutschlands einmarschieren.
    Mein Vater war dreizehn Jahre alt, als er zum ersten Mal etwas über die polnischen Soldaten erfuhr, die auf der Seite der Alliierten gekämpft hatten. Die Legenden, die sich um die Schlacht von Monte Cassino rankten, waren die Grundlage |35| für die Geschichte von meinem polnischen Großvater. Es sollte einige Zeit dauern, bis ich sämtliche Teile zusammengesetzt hatte, die Andeutungen und Hinweise, die meinen Vater seine ganze Kindheit über begleitet hatten und die zuletzt, wie ich schließlich
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