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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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später als Student selbst ein paar Jahre lang trug, unter dem Arm die Umhängetasche, in der er Bücher, Hefte und eine Schachtel mit farbiger Kreide transportierte.
    Ich war 1971 zur Welt gekommen. Mein Vater besuchte damals die Universität, hatte nun allerdings eine Familie zu ernähren. Als zwei Jahre später der Briefwechsel mit Józef einsetzte, fehlte ihm noch immer das Staatsexamen. Eine feste Stelle an einer Schule war nicht in Aussicht. Er hielt sich zunächst als angestellter Lehrer mit befristeten Verträgen über Wasser, die ihn in verschiedene Orte in ganz Niedersachsen führten. In einem Brief muss er Seesen im Harz erwähnt haben. »Wo genau liegt die Stadt?«, schrieb Józef zurück: »Ich habe in Braunschweig in einer Kaserne gewohnt.«
    Es ist einer der wenigen Hinweise auf den Krieg und die Ereignisse, die Józef und meine Großmutter Marianne zusammengeführt hatten. Viel mehr gab es nicht. Ich war enttäuscht, in den Briefen nichts über die Flucht aus Polen und über die Schlacht von Monte Cassino zu finden, von der mein Vater mir erzählt hatte, als ich ein Kind war. Stattdessen |42| las ich, wie Józef Anteil am Familienleben meines Vaters nahm. Er freute sich, als meine Eltern eine größere Wohnung fanden, und er bestärkte meinen Vater in seiner Entscheidung, das Examen nachzuholen, um Beamter werden zu können und die Chancen auf eine dauerhafte Anstellung in der Nähe seines Wohnortes zu erhöhen. Zwei Wohnungen, schrieb er, das seien auch doppelte Kosten.
    Es war eine seltsame Mischung aus Intimität und Distanz. Józef war meinem Vater nie wieder begegnet, seit er kurz nach dem Krieg Fürstenau verlassen hatte, und doch trat in den Briefen ein Vater seinem Sohn gegenüber. Die Ratschläge zum beruflichen Fortkommen waren nicht die einzige Stelle, an der Józef einen väterlichen Tonfall anschlug. »Pass auf beim Schreiben der Adresse«, korrigierte er meinen Vater: »Das letzte Mal hast Du ›Lubliniec‹ falsch geschrieben. Der vorletzte Buchstabe ist ein ›e‹, der letzte ein ›c‹.«
    Vor allem ermahnte Józef meinen Vater, ihm auch wirklich zu antworten. Er selbst schickte drei, manchmal vier Briefe im Jahr. Außerdem schrieb er regelmäßig Postkarten, zu Weihnachten eine Krippenszene, Küken in einem Nest zu Ostern und ein Foto von einem Strauß gelber Rosen zum Geburtstag, und jedes Mal wies Józef darauf hin, dass mein Vater sich mit seinen Antworten zu viel Zeit lasse. »Ich erwarte täglich einen Brief von Dir.« »Mit großer Sehnsucht warte ich auf eine Nachricht von Dir.« »Lass mich nicht wieder so lange warten.« Und am 3. April 1974, als Nachtrag unter einem Ostergruß: »Warum schreibst Du mir nicht?«
    Fünfundzwanzig Umschläge lagen in der Zigarrenkiste, die vor mir auf meinem Schreibtisch stand, dazu ein Stapel |43| Postkarten. Józef schrieb ausführlich, die meisten Umschläge enthielten mehrere Seiten. Trotzdem blieben viele Fragen offen. Den größten Raum nahmen Kommentare zu den politischen Zuständen in Polen ein, und schließlich wurde Józefs Tonfall zunehmend unpersönlicher. Ich las die Briefe immer wieder, und die abenteuerliche Geschichte des polnischen Soldaten, die mein Vater mir zur gleichen Zeit erzählt hatte, als er sich mit Józef Koźlik schrieb, kam mir jedes Mal unwirklicher vor. Ich fuhr zurück nach Polen, um mehr über meinen Großvater in Erfahrung zu bringen.

 
    |44| D ie Malapane entspringt im Hochland von Oberschlesien. Sie fließt über Grünwald und Alt Werder in Richtung Westen, um sich bei Keltsch und Sandowitz in Richtung Norden zu wenden. Der sandige Boden des Flusstals im Oppelner Land ist reich an Erzen, und Ende des achtzehnten Jahrhunderts lässt Philipp Graf Colonna tief in den Wäldern sechs Hochöfen errichten. Ein Kanal wird ausgehoben, Schleusen werden gebaut, und das Wasser der Malapane treibt jetzt Blasebälge und Hammerwerke an. Die Hütte wächst schnell. In Preußen steigt die Nachfrage nach Stahl und Schmiedeeisen, und in den Dörfern rund um Colonnowska siedeln sich Arbeiter an. Auch Maria Wieszoleks Eltern kommen gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts nach Groß Stanisch, einem kleinen Ort mit einer Kirche, der von Colonnowska aus auf der anderen Seite der Malapane liegt. Hier, fast eintausend Kilometer östlich von Fürstenau, hat alles angefangen, und zwar mit einem Gewehrschuss.
    Als Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg in eine deutsche und eine polnischen Hälfte geteilt wird, ist Maria Wieszolek
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