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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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vierundzwanzig Jahre alt. Sie ist eine schöne Frau, aber sie trägt ein Glasauge, und hier in der Gegend weiß jeder, wie sie dazu gekommen ist. Zu Beginn des Krieges hatte Maria einen hartnäckigen Verehrer, einen jungen |45| Mann aus ihrem Ort, der ihr seit längerem den Hof gemacht hatte. Maria hatte kein Interesse an ihm, und nachdem sie ihn auf einem Fest mit deutlichen Worten abgewiesen hatte, kam es zu einer hässlichen Szene. Der junge Mann passte sie auf dem Weg nach Hause ab und bedrohte sie mit einem Gewehr. Es handelte sich um ein Luftgewehr, ein Spielzeug, das sich nicht einmal dazu eignete, Spatzen zu erlegen, doch als sich ein Schuss löste, wurde Maria so unglücklich von der Kugel getroffen, dass sie ein Auge verlor. Ihr Verehrer fiel im Jahr darauf in einem Schützengraben an der Westfront. Maria blieben das Glasauge, ein hängendes Lid und der Ruf, die weibliche Hauptrolle in einem Liebesdrama gespielt zu haben. Von nun an gingen die Männer auf Abstand zu ihr.
    Der Hilfsschaffner Augustyn Koźlik, der aus Bendawitz kommt, einem Dorf, das zum Kirchspiel Groß Stanisch gehört, muss darum nicht lange um sie werben. Als er Maria Wieszolek im Sommer des Jahres 1923 um ihre Hand bittet, willigt sie sofort ein, und sie beklagt sich auch nicht, als er ihr kurz vor der Heirat eröffnet, dass er in den polnischen Teil Oberschlesiens übersiedeln wird. Augustyn ist Pole, kein Deutscher, und er weiß, dass er bei der Reichsbahn keine Aussicht auf Beförderung hat. Auf der anderen Seite der Grenze rechnet er sich bessere Chancen aus. Als er kurz nach der Hochzeit eine Stelle bei der Polnischen Staatsbahn in Siemianowitz antritt, verspricht er Maria, dass er sie nachholen werde, sobald er eine passende Wohnung gefunden habe. Doch die Suche zieht sich hin. Jedes Mal, wenn Augustyn seine Frau in Groß Stanisch im Haus ihrer Eltern besucht, vertröstet er sie auf den nächsten Monat, lässt ein bisschen Geld da und fährt zurück nach Polen. Nach einem |46| Jahr hat sich die Situation noch nicht verändert. Auch als Maria schwanger wird, macht Augustyn keine Anstalten, sie zu sich nach Siemianowitz zu holen. Am 17. Februar 1925 bringt sie einen Sohn zur Welt, der in Groß Stanisch in der Kirche Sankt Borromäus auf den Namen Józef getauft wird.
    Vier Jahre lang fährt Augustyn mit den Zügen der Polnischen Staatsbahn durch das oberschlesische Industriegebiet. Viele Bahnhöfe kennt er noch aus der Zeit vor dem Krieg, aber die Namen auf den Schildern haben jetzt einen polnischen Klang. Beuthen heißt Bytom, aus Kattowitz ist Katowice geworden und aus Myslowitz Mysłowice. Augustyn ist in Polen vom Hilfsschaffner zum Schaffner befördert worden, und im Jahre 1927 wird er Stationsvorsteher in Siemianowitz. Er verdient gut und schickt regelmäßig Geld an seine Eltern. Wenn er zu Besuch bei ihnen in Bendawitz ist, bringt er Geschenke für seine jüngeren Schwestern Agnieszka und Małgorzata mit, Kämme, mit Schildplatt besetzte Haarbürsten, ein kleines besticktes Portemonnaie zum Geburtstag und zum Namenstag ein Futteral für das Gesangbuch.
    Mit der Zeit werden die Wünsche der Schwestern immer größer und kostspieliger. Sie bitten Augustyn um Geld für Ohrringe und Halsketten und schicken ihn in die Markthalle in Siemianowitz, um Stoff zu kaufen, aus dem sie sich Kleider für die Tanzvergnügen auf den Dörfern der Umgebung nähen. Augustyn kann nicht nein sagen, und schließlich drängen seine Schwestern ihn, eine Kutsche anzuschaffen. Agnieszka und Małgorzata träumen davon, am Sonntagmorgen unter den Blicken ihrer Nachbarn in einem Landauer mit zurückgeklapptem Verdeck von Bendawitz |47| nach Groß Stanisch zur Kirche zu fahren. Augustyn zögert, doch als seine Schwestern immer weiter betteln, willigt er ein. Der Wagen ist noch nicht gekauft, als die Nachricht von dem teuren Geschenk nach Groß Stanisch und bis in das Elternhaus seiner Frau Maria dringt. Augustyns Schwiegervater platzt der Kragen.
    Im Frühjahr 1929 ist die wirtschaftliche Situation in Oberschlesien schlecht. Die Grenze hat sich zwischen die Eisenhütten und die weiterverarbeitenden Betriebe der Stahlindustrie geschoben, die neuen Zollbestimmungen verlangsamen die Gütertransporte. Auf der deutschen Seite haben zahlreiche Unternehmen in den letzten Jahren Konkurs angemeldet, und auch in den Hochöfen in Colonnowska ist die Glut schon lange erloschen. Marias Vater, der als Former im Gießwerk gearbeitet hat, ist arbeitslos. Seine Tochter ist
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