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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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letzten Pfennige zusammen und bestellte ein Glas Limonade. Es war Abend, mein Vater war zwölf Jahre alt, und der Wirt hatte ihn noch nie gesehen. Er musste nicht viele Fragen stellen, um herauszubekommen, dass der Junge, der in seiner Schankstube saß, von zu Hause weggelaufen war. Der Wirt griff zum Telefon, und eine Stunde später traf Marianne in Arnolds Borgward ein.
    Das war das Ende des Abenteuers, zumindest in der ersten Version dieser Geschichte. Nachdem mein Vater mir an jenem Abend nach dem Besuch bei meinen Großeltern von Józef erzählt hatte, bekam die Geschichte einen neuen Schluss. Als Marianne in Fürstenau in der Küche den Seesack auspackte, hatte sie darin nicht nur Kleidungsstücke, den Campingkocher, ein leeres Kompottglas und eine angebrochene Packung Zwieback gefunden, sondern auch einen Schulatlas. Zwischen den Seiten steckte ein Lesezeichen. Als sie den Atlas aufschlug, sah sie, dass mein Vater auf der Karte, die den nördlichen Teil Deutschlands zeigte, mit einem Bleistift die Route eingetragen hatte, die er in den nächsten Tagen und Wochen mit dem Fahrrad hatte zurücklegen wollen.
    Der schmale, graue Strich führte über Osnabrück, Hannover und Berlin, und von dort aus immer weiter nach Osten. Mein Vater hatte im Oktober 1958 nicht einfach nur von zu Hause weglaufen wollen. Er hatte ein ganz konkretes Ziel gehabt. Er war auf dem Weg nach Polen gewesen. |28| Ich hatte mir gewünscht, dass es eine einfache Geschichte werden würde. Eine junge Frau lernt kurz nach dem Krieg einen polnischen Soldaten kennen. Für beide ist es die erste große Liebe. Sie bekommen ein Kind, doch dann kehrt der Soldat zurück in sein Heimatland. Der Frau bricht es das Herz, sie verliert nie wieder ein Wort über den Mann, und für den Sohn bleibt der Vater für immer ein Geheimnis. Doch die Geschichte von meinem Vater und meinem polnischen Großvater ließ sich nicht in wenigen, überschaubaren Sätzen zusammenfassen.
    1953, mit sechs Jahren, sollte mein Vater zu Ostern eingeschult werden. Die Volksschule lag nicht weit vom Haus seiner Großeltern entfernt an der Bahnhofsstraße, auf der anderen Seite der Gleise. Das große Gebäude mit den spitzen Giebeln war in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg errichtet worden und beherbergte gleich zwei Schulen, eine evangelische Volksschule im rechten Flügel und eine katholische im linken; eine Mauer teilte den Schulhof. In Fürstenau waren beide Konfessionen gleich stark vertreten. Marianne war evangelisch, genau wie ihre Eltern, und mein Vater würde eine Klasse im rechten Flügel des Schulgebäudes besuchen. Es gab nur ein Problem. Er war noch nicht getauft.
    Die Zeremonie fand zu Hause statt. An einem grauen Nachmittag im Januar traf der Pastor ein, und die Familie versammelte sich im Herrenzimmer, hinter zugezogenen Gardinen. Auch Großonkel Rudolf war da, der mittlerweile eine Wohnung in der Nähe seiner Polsterwerkstatt bezogen hatte und nur selten zu Besuch kam. Es war eine seltsame Stimmung an jenem Nachmittag, was nicht nur daran lag, dass Rudolf und Anna sich nicht leiden konnten und bei jeder Gelegenheit miteinander zankten. Alles ging sehr |29| schnell, ohne viele Worte. Der Pastor sprach das Glaubensbekenntnis, sprengte Wasser über den Kopf meines Vaters, und anschließend gab es eine Tasse Kaffee und ein Stück Buttercremetorte, wie immer bei besonderen Anlässen. Schließlich verabschiedeten sich erst der Pastor und dann Rudolf, der als Pate ins Kirchenbuch eingetragen werden sollte. Mein Vater spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, doch niemand erklärte ihm den Grund dafür, dass er mitten in der Woche in aller Stille zu Hause getauft wurde und nicht am Sonntagmorgen vor der versammelten Gemeinde in der Kirche. Dass es dabei um den Vater ging, den er nicht hatte, begann er erst zu ahnen, als er wenige Wochen später in die Schule kam.
    Viele Kinder wuchsen damals ohne Vater auf. Die jüngeren von ihnen waren auf einem der letzten Fronturlaube gezeugt worden, bevor der Krieg in seine letzte Phase getreten war und noch einmal unzählige Soldaten gefallen waren. Doch mein Vater war nach dem Krieg geboren worden, im August 1946, und als er im Frühjahr 1953 in die Schule kam, war er das einzige Kind in seiner Klasse, das auf die Frage des Lehrers nach Namen und Beruf des Vaters keine Antwort geben konnte.
    Das Feld in der rechten Spalte des Klassenbuchs blieb leer, und wenn mein Vater am Ende des Schuljahres das Zeugnis mit nach Hause brachte, setzte
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