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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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Palästina den britischen Truppen angeschlossen, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Als der Krieg vorbei gewesen sei, erklärte mein Vater mir, sei Józef mit der britischen Armee nach Deutschland gekommen und habe in Fürstenau meine Großmutter kennengelernt. Sie hätten ein Kind bekommen, ihn, meinen Vater. Kurz darauf sei Józef in sein Heimatland zurückgekehrt. Meine Großmutter sei im Haus ihrer Eltern geblieben, er selbst könne sich nicht an seinen Vater erinnern.
    Das war die Geschichte, so wie mein Vater sie mir erzählte. Er löschte das Licht und ging aus dem Zimmer. Die Tür zum Flur ließ er angelehnt, wie jeden Abend. Nicht alles verstand ich sofort. Mir blieb zunächst nur das Bild von einem jungen Mann im Kopf, der durch eine mondlose Nacht lief, im Schutz der Dunkelheit auf Züge aufsprang und sich tagsüber in verfallenen Scheunen und unter Brücken vor seinen Verfolgern versteckte. Mein Vater erzählte mir dann immer wieder von Józef. Mit der Zeit prägten sich mir alle Details ein, die falschen Papiere, die Ziegenhirten, |24| die die alten Wege durch die Berge kannten, die flirrende Hitze in den Camps der britischen Armee vor den Toren Teherans, Orte wie Tobruk, an denen mein Großvater Seite an Seite mit englischen Soldaten gekämpft hatte.

 
    |25| A n einem Dienstag im Oktober beschloss mein Vater von zu Hause auszureißen. Er war zwölf Jahre alt. Er aß das Mittagessen, das Anna wie immer im Ofen für ihn warmgehalten hatte. Anschließend brachte er seinen Ranzen in das Schlafzimmer, das er sich jetzt nur noch mit seiner Mutter teilte. Mariannes Schwester Eleonore hatte im Jahr zuvor die Schule beendet und das Haus verlassen, um zu studieren. Hastig suchte mein Vater Unterwäsche, Socken und einen warmen Pullover zusammen und lief mit dem Bündel die Treppe in den ersten Stock hinauf und weiter bis zum Dachboden. Aus einer der Holzkisten zog er den alten Seesack hervor, den ein Verwandter in den Jahren nach dem Krieg in Fürstenau zurückgelassen hatte, und stopfte die Kleidung hinein.
    Anna arbeitete im Garten, und mein Vater schaffte aus der Speisekammer ein Glas eingemachte Kirschen und eine Packung Zwieback auf den Dachboden. Im Laufe des Nachmittags füllte sich der Seesack. Mein Vater packte eine Wolldecke und einen Esbit-Kocher ein und auch sein Taschenmesser, nachdem er mit der längeren der beiden Klingen ein paar Münzen aus dem Sparschwein geangelt hatte, das im Schlafzimmer auf der Frisierkommode stand. Abends, als seine Großeltern und seine Mutter in der Küche Karten spielten, schlich er sich ein letztes Mal auf den Dachboden. |26| Er trug den Seesack nach unten und warf ihn kurzerhand aus dem Fenster in den Garten, um ihn anschließend im Schutz der Dunkelheit zwischen den Ligustersträuchern am Bahndamm zu verbergen.
    Am nächsten Morgen wurde er erst spät wach. Mittwochs musste er nicht zur Schule. Es gab zu wenige Lehrer in den fünfziger Jahren, weil viele junge Männer im Krieg gefallen waren, und das Gymnasium in Quakenbrück, das mein Vater besuchte, hatte den Unterricht so lange zusammenstreichen müssen, bis schließlich ein ganzer Tag für schulfrei erklärt worden war. Marianne hatte damals gerade angefangen, als Sekretärin in einer Eisenwarenhandlung in Rheine zu arbeiten. Sie verließ das Haus früh am Morgen, und als Anna in die Stadt gegangen war, um auf dem Markt und in Knockes Kolonialwarenladen Einkäufe zu erledigen, holte er sein Fahrrad aus der Garage. Er schob es aus der Einfahrt und sah sich vorsichtig nach allen Richtungen um, bevor er den Seesack aus dem Gebüsch zog, ihn auf den Gepäckträger warf und den Bahndamm entlang hinaus in die Felder fuhr. Er kam gut voran. Bereits am frühen Nachmittag war er in Osnabrück, wo er sich an einem Imbiss in der Nähe des Bahnhofs eine Bratwurst kaufte und anschließend die Kirschen aus Annas Speisekammer aß.
    Mein Vater muss an jenem Mittwoch im Oktober rund hundert Kilometer mit seinem Fahrrad und dem schweren Seesack auf dem Gepäckträger zurückgelegt haben. Die Ausläufer des Teutoburger Waldes hinter Osnabrück hatten ihn viel Kraft gekostet. Er war erschöpft, und mit der Müdigkeit kamen die Zweifel. Er war sich längst nicht mehr sicher, ob er die Nacht wirklich allein am Rande eines Feldes verbringen wollte, in eine Wolldecke gewickelt, den Kopf |27| auf dem rauen Stoff des Seesacks. In einer kleinen Ortschaft hielt er an einem Gasthof. Er setzte sich an einen Tisch in der Ecke, kratzte seine
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