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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman
Autoren: dtv
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seinen Frieden finden? Mit welchem Recht? Mein Vater war allein und ohne Stimme aus dem Lager gekommen, mit einer Nummer im Unterarm. Wer hatte ihm zugehört? Wer hatte ihn verstanden? Niemand. Nirgends. Brumaire war an der Gleichgültigkeit gestorben, und Beuzaboc hatte ihm sein Leben geklaut. Mein Vater hätte in Lupulines Zimmer sitzen müssen. Die Geschichte dieses Helden hätte ich hören sollen. Jedesmal, wenn Beuzaboc den Globus anschaltete, stahl er meinem Vater den Platz, den Leib, die Würde. Nein. Ich hatte mich entschieden. Tescelin würdenie wieder zu Ghesquière werden. Sondern Beuzaboc bleiben, der tapfere große Mann. Bis zu seinem letzten Seufzer. Er hatte es zu lange behauptet, zu viel gemurmelt im Halbdunkel des Kinderzimmers. Er wollte Widerstandskämpfer sein? Ich würde aus ihm einen Helden machen. Er wollte die Anerkennung? Er sollte sie haben, auf immer und ewig. Lupuline könnte stolz auf ihn sein. Ich würde alles umschreiben. Noch schöner, noch größer machen. Ich hatte ohnehin schon damit begonnen, ohne genau zu wissen, wie weiter. Das war es. Beuzaboc würde nie seinen Frieden bekommen. Nie seine Ruhe finden. Nie mit aufrechten Menschen in derselben Erde ruhen. Nie sagen können: Das bin ich. Die Erlösung bliebe ihm versagt. Bis zum Ende seines Weges würde ich ihn begleiten, trötend um ihn herumtanzen wie ein lästiges Kind. Ihn so weit wie möglich wegführen von seinem Leben, bis an die Schwelle der unbekannten Geschichte meines Vaters. Und da ließe ich ihn dann stehen, ächzend unter Ehren und Orden, Kühnheit und Stolz. Ließe ihn vernebelt und von Tapferkeit besudelt ins ewige Heldentum einfahren wie in die Hölle.

    Ich fiel aufs Bett zurück. Rachsüchtig und wütend.
Vengeance
, Vergeltung, war das einzige Wort, das mir über die Lippen kam, obwohl ich es nicht mochte. Ich wütete gegen das Schweigen meines Vaters, gegen Beuzaboc, gegen mich. Meine Entscheidung war gefallen. Ich fühlte mich an kein Versprechen mehr gebunden. Ich würde Beuzaboc Lupulines Roman übergeben. Die großartige Geschichte eines Mannes, der nicht alles gesagt hatte. Viel großartiger, mutiger, erschütternder als alles, was man sich ausdenken könnte. Ich würde das Leben eines großen Mannes erzählen. Und dannmeine Trompete ansetzen und alles hören, was Papa mir nicht gesagt hatte.
    ***
    Beuzaboc rief mich an. Ich hatte zwei Dienstage verstreichen lassen, ohne mich zu melden, nur Lupuline über meine Krankheit informiert. Er klang nicht besorgt. Wenn er mir helfen könne, würde er es gern tun. Ob ich vielleicht noch eine Frage hätte? Klärungsbedarf? Seine Tochter habe ihm den Titel »Délivrances« vorgeschlagen, den finde er perfekt. Genau das sei es für ihn, eine Befreiung, nicht mehr und nicht weniger. Es gefalle ihm, dass der Titel kein Urteil fälle und keine Übertreibungen enthalte, sondern den Tatsachen entspreche. Tescelin Ghesquière habe einen Mann erfunden, dem er sich nun stellen müsse.
    Ich war noch schwach und hustete beim Sprechen. Beuzaboc schlug ein Treffen vor, wenn ich wieder bei Kräften sei. Das wäre unsere zehnte Sitzung. Auch ich wollte ihn noch einmal sehen, aber nichts mehr von ihm hören oder verstehen. Ich fürchtete mich sogar ein bisschen vor diesem Treffen. Es würde schwierig werden, das was mir klar. Etwas war zerbrochen in der Zeit meines Rückzugs. Ich empfand keine Zärtlichkeit mehr und kein Mitgefühl. Nur eine Art Ekel.
    Merkwürdig, er, der sonst immer so distanziert war, wollte das Gespräch anscheinend gar nicht beenden. Nun, da es etwas abgekühlt habe, sei der Ventilator wieder im Keller, erzählte er, und dass Lupuline ihm die Biographie zu seinem vierundachtzigsten Geburtstag am 28. Oktober schenkenwolle. Ob ich nächstes Mal wieder zu ihm kommen wolle? Nein, sagte ich, ich würde ihn zum Abschluss lieber in der Brasserie treffen, in der wir uns kennengelernt hätten. Das wäre weniger formal und entspannter. Er lachte. Sein ruhiges Beuzaboc-Lachen. Mir gefiel seine Leichtigkeit nicht. Und seine Zuversicht. Mir gefiel nichts mehr an ihm. Auch seine Stimme ging mir auf die Nerven. Ich wollte seinen Blick nicht mehr sehen, seine Hände, seine lächerliche Zigarette. Ich wollte nur noch, dass Schluss sei mit all dem. Er legte auf. Ich trank mein erstes kaltes Bier seit meiner Erkrankung. Langsam, aus der Flasche, die Augen fast geschlossen. Dann schaltete ich den Computer ein.

21
    Lupuline kam am 15. September in mein Büro. Sie befand, dass ich
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