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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman
Autoren: dtv
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Bomben aus wie Regentropfen.
    Sie sah mich an. Die Augen leuchtend von Kindheitsschauern. Dann kam sie wieder zu sich, zu mir. Ihr Gesicht war ernst.
    »Hatten Sie den Eindruck, dass sein Bein schmerzt?«
    Die Frage überraschte mich. Ja, antwortete ich. Es fällt ihm manchmal schwer aufzustehen. Er verzieht das Gesicht. Er hinkt. Einmal habe ich ihn sogar stöhnen gehört.
    »Vor mir verbirgt er sein Leiden«, sagte Lupuline. »Mit dem Alter und mit der Zeit kommt alles wieder hoch, aber er spricht nicht darüber.«
    Sie stand auf.
    »Hat er Ihnen sein Bein gezeigt?«, murmelte sie.
    »Nein. Warum?«
    »Das ist kein schöner Anblick.«
    »Kann ich mir vorstellen.«
    Sie schüttelte den Kopf. Ließ mich nicht aus den Augen.
    »Nein, können Sie nicht. Da ist nämlich eine ordentliche, saubere Wunde. Eine Quetschung. Als hätte eine riesige Masse Kniescheibe, Schienbein und Wadenbein zugleich zermalmt.«
    »Bombensplitter.«
    Dieselbe Spannung.
    »Das Bein wurde nicht zerfetzt oder zerrissen, sondern zerquetscht. Ich arbeite in der orthopädischen und traumatologischen Chirurgie. Das ist kein Zufall.«
    Ich stand auch auf, um mit ihr auf gleicher Höhe zu sein.
    »Warum sagen Sie mir das?«
    »Da ist nichts verbrannt oder zerrissen. Mit dem Krieg hat diese Verletzung nichts zu tun.«
    »Aber warum sagen Sie mir das?«
    Lupuline blickte sich in meinem kleinen Büro um. Ich wusste, dass es ihr letzter Besuch war. Auf meinem Tisch lagen Hefte und Stifte. Sie strich mit dem Zeigefinger über den Fuß meiner Lampe und einen bemalten Stein, den ich aus Connemara mitgebracht hatte. In ihren Augen stand Schweigen.
    »Verfolgen Sie mit jedem Ihrer Sätze eine Absicht, Monsieur Frémaux?«
    Sie hatte mir nicht geantwortet. Ich hatte fast keine Kraft mehr in mir. Ich füllte den Raum und die Zeit, die uns noch blieben. Ging zur Tür. Öffnete sie. Das konnte höflich sein, aber auch eine Art, sie hinauszuwerfen.
    »Sie stellen Fragen, geben aber keine Antworten.«
    Das war mir so herausgerutscht. Jäh und bedauerlich. Leise und wider Willen. Lupuline ging durch die Tür. Lächelte von neuem. Im Flur gab sie mir die Hand wie gewohnt. Ein sanfter, fester Händedruck, zwei Finger strichen über mein Handgelenk.
    »Ich habe Ihnen das alles gesagt, um Ihnen ins Gesicht sehen zu können«, murmelte sie.
    ***
    Ich saß noch lange aufrecht auf meinem Stuhl und blickte zu der geschlossenen Tür. Schweigend, regungslos wie im Wartesaal vor dem Fegefeuer. Lupuline war noch einen Momentbei mir im Zimmer geblieben. Ihr Ambraduft, ihre Art, ihre Anmut. Dann schlug ich plötzlich, als hätte ich eben etwas Schreckliches erfahren, mein Notizbuch auf und schrieb ihre Worte hinein: »Chirurgin«, »Quetschung«, »ins Gesicht sehen können«. Beuzaboc hatte ihr nichts gesagt. Er hatte seiner Tochter nichts gebeichtet. Da war ich mir sicher. Er wartete auf das Fest der Geständnisse und hoffte, dass mein Buch für ihn spräche. Lupuline hatte die Idee mit der Biographie gehabt. Mir mit ihrem Kindertagebuch geholfen. Sie wollte, dass ich sie schonte, ihrem Vater Respekt zollte, seine Geschichten bewahrte. Warum also zog sie mich ins Vertrauen? Und warum jetzt? Was wusste sie eigentlich alles? Das mit dem Unfall in der Werkstatt? Was noch? Das mit dem Deutschen? Wimpy? Ascq? Ein Schrecken durchfuhr mich. Wurde ich als Spielzeug missbraucht? Als Einsatz in einem Duell? In einer Wette zwischen Tochter und Vater, wer von beiden das Herz des kleinen Biographen erobern könnte? Ihn zum Nachgeben brächte? Zum Geständnis seiner Wahrheit zwänge? Zum Teilen seiner Lügen? Seinen Anstand und seinen Verstand besiegte? Ich schüttelte den Kopf. Und machte mich an die Arbeit. Schnell. Mit einem Zug strich ich alles, was Lupuline wusste.
    ***
    Trompette lag tot auf dem Bauch, die rechte Schulter ausgekugelt, ein Bein über dem anderen. Seine Hose hatte ich mit Urin eingenässt und mit Scheiße beschmiert. Dann strich ich diese Stelle, weil ich mich dafür schämte. Hatte Beuzabocüberhaupt so einen Jungen gekannt? Wo hatte er nach Trompette und Fives gesucht? Er hatte kaum von ihnen erzählt. Nur ein paar Worte zwischen zwei Mogeleien. Nun hauchte ich ihnen Leben ein. Vor seinem Tod hatte Trompette von mir ein Gesicht und eine Stimme bekommen. Jetzt war Fives dran, der Eisenbahner, der über die Ermordung eines Deutschen fast den Verstand verloren hätte. Der Modelllokomotiven baute und sich weigerte, echte zu sabotieren. Der alle hasste, die sich an Schienen
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