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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman
Autoren: dtv
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einmal.
    Nein, natürlich nicht. Sie würde die Wahrheit gleichzeitig mit allen anderen erfahren.
    »Und Sie sind auch nicht zu streng mit mir?«
    Nein, sagte ich. Ich fällte kein Urteil über ihn, sondern erzählte seine Geschichte, wie man die eigene Geschichte erzählen würde. Alles beruhe auf seinem Wunsch nach schlichter Wahrheit. Er hätte ja bis zum Schluss lügen können, biszum letzten Satz, aber das habe er nicht gewollt. Weil er das Tageslicht den Scheinwerfern vorziehe, die zögernde Morgenröte der Mittagssonne. Beuzaboc hörte mir zu. Lächelte. Und durchbohrte mich mit seinen Blicken. Einen Moment lang war ich davon überzeugt, er ahnte, durchschaute, wusste, dass ich im Begriff war, ihn zu verraten. Wie er trank, ohne in seiner Aufmerksamkeit nachzulassen. Seine tiefen Falten, die ihm einen sorgenvollen Ausdruck verliehen. Seine Hände, die den abgegriffenen Holzknauf streichelten. Wie er sprach. Wie er schwieg. Er sah mich nicht an, er studierte, erforschte mich.
    »Sie müssen sich keine Sorgen machen«, sagte ich.
    Beuzaboc machte eine abwehrende Geste. Noch immer sein Lächeln. Er leerte sein Glas bis zum Grund, ein Bier von der Farbe dunklen Honigs. Legte sanft die Hand auf meinen Arm.
    »Ich mache mir keine Sorgen. Ich habe Ihnen mein Vertrauen geschenkt.«
    Dann stand er auf. Stützte sich schwerfällig auf seinen Stock. Sein linkes Bein war steif. Anscheinend hatte er Schmerzen. Auch ich war aufgestanden. Warum hatte ich das gesagt? Er hatte wieder von Vertrauen angefangen. Das wäre nicht nötig gewesen. Ich ärgerte mich über mich. Wir gingen durch die Brasserie. Für einen Augenblick fiel mein Blick in den großen Spiegel. Ich sah zwei Betrüger, den älteren auf den Arm des jüngeren gestützt, und zweifelte kurz an allem. Als wir aus der Glastür traten, regnete es. Tescelin Ghesquière sah zum Himmel. Verzog das Gesicht und löste sich langsam von meinem Arm. Er gab mir die Hand. Ich nahm sie. Er wusste es, ich bin mir sicher. Aus seinen Augen sprachen Spott undVerachtung. Er lächelte. Ich lächelte zurück. In meinem Kopf drehte sich alles.
    »Kommen Sie doch zu meinem Geburtstag!«
    Ich protestierte. Schwach. Ich war es nicht gewohnt, dabei zu sein, wenn ein Buch zum ersten Mal aufgeschlagen wurde. Ich versteckte mich hinter den Biographien. Srieb nur über Glück und Verletzungen.
    »Ihretwegen oder für Lupuline?«, fragte ich.
    »Ihretwegen und für Brumaire«, sagte Beuzaboc.

    Er ging. Hinkte über das Trottoir, eng an der Wand entlang, um dem Regen zu entgehen. Ich sah seiner Mähne, dem Regenmantel, dem mächtigen Rücken hinterher. Ein schöner, großer Mann. Eine Frau, ein Soldat, zwei lachende Jugendliche traten zur Seite, um ihm Platz zu machen. In fast einem Monat würde ich ihm die Ehre erweisen. Also ihn würdigen für alles, was er nicht war. Meinen Vater würdigen, Pierre Frémaux. Der als Einziger überlebt hatte, älter wurde ohne Ansprüche, Ehren, Orden, und sein Schweigen über alles bewahrte. Der seine Zeit hinter sich brachte, wie man einen Weg hinter sich bringt. Der nichts erzählte, nie und niemandem. Und der nichts bereute. Ich würde Albert Deberdt würdigen, Eisenbahner aus Délivrance, am 15. September 1941 in der Zitadelle von Lille erschossen, weil er Flugblätter verteilt hatte. Hervé Dubois, Eisenbahner aus Béthune, am 13. Juli 1942 in Arras erschossen, weil er ein Untergrundgewerkschafter war. Paul Camphin, Eisenbahner aus Arras, am 1. November 1943 erschossen, weil er Kommunist war. Gilbert Bostsarron, Eisenbahnindustrieller, am 20. Januar 1944 auf der Festung Bondues erschossen, weil er Gaullist war. Albert Réghem,Eisenbahner aus Hirson, am 8. August 1944 in Saint-Quentin erschossen, weil er ein Kämpfer des bewaffneten Flügels der Résistance FTPF war.
    ***
    Über Ascq habe ich nichts geschrieben. So sehr konnte ich nicht lügen. Immerhin hatte ich es zwei Tage lang versucht. Beuzaboc war der Chef des Kommandos. Er transportierte die Sprengladung, wartete auf den Zug, musste ohnmächtig das Massaker an der Zivilbevölkerung mitansehen.
    Ich las mir noch einmal durch, was ich geschrieben hatte. Jedes Wort eine Beleidigung. Dagegen war die Wimpy-Geschichte ein Gutenachtmärchen. Der deutsche Soldat hatte nie existiert. Das alles war nicht so schlimm. Aber Ascq war die Wahrheit, für die Lebenden und für die Toten. Dieser Name war heilig.
    Nein, Beuzaboc kam nie nach Ascq. Ich beschloss, ihn in der Werkstatt arbeiten zu lassen, als er davon
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