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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman
Autoren: dtv
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und Zügen, seinem Werkstoff, vergriffen. Dann ging ich an den Anfang zurück. Da musste noch etwas hin, vor dem ersten Satz und gleich nach dem Titel, ein Motto, eine Widmung, etwas, das ihnen sagte, warum.
    Ich dachte nach. Lupulines Bemerkung fiel mir ein: »Für unsere Väter«. Ich dachte an Tescelin, den Fälscher, und an Pierre, den Widerstandskämpfer. »Für unsere Väter«. Das war es. Kein Wort mehr. Für dich, Papa. Für Sie, Beuzaboc. Für das, was ihr seid, und für das, was wir davon glauben. Ich schrieb diese Widmung hin. »Für unsere Väter«. Las sie noch einmal und erhob mein Bier auf Trompette, den es bestimmt gegeben hatte.

22
    Am 16. September 2003 um 20 Uhr traf ich mich mit Beuzaboc. Zum letzten Mal, wie ich dachte. Wir hatten uns im »3 Brasseurs« am Bahnhofsplatz von Lille verabredet. Er war vor mir gekommen und hatte sich an denselben Tisch gesetzt wie bei unserem ersten Treffen, gegenüber der Bar und den Bierbottichen. Er hatte seinen Mantel an, den Stock zwischen den Beinen, die Brille auf der Stirn und trank Amberbier. Ich bestellte mir an der kupfernen Theke ein Helles und setzte mich zu ihm. Er stand nicht auf. Ich gab ihm ohne ein Wort die Hand. Er nahm sie ohne ein Wort. Starrte mich durch seine Brille an. Trank.
    Es waren viele Menschen in dem Lokal. Ein streitendes Paar, eine laute Freundesrunde, flämische Lacher zwischendurch. Und wir. Das heißt niemand. Ein merkwürdiges Schweigen. Wir hätten Vater und Sohn sein können, die hier gemeinsame Erinnerungen austauschen wollten. Eine schlechte Nachricht. Einen Trauerfall. In einem dieser wortlosen Momente, wo nur der Blick existiert.
    »Sie sind immer noch müde.«
    Das war keine Frage. Also nickte ich und setzte das Glas an die Lippen. Ich hatte nichts zu sagen. Nichts zu fragen, nichts zu erzählen, nichts zu teilen, nichts zu vergeben, nichts. Ichsaß nur so da, ihm gegenüber. Er riesig, ich zerknautscht, mit einem großen Bier und gesenktem Blick.

    Ich sah es vor mir, wie er sich in jener Nacht vom 9. auf den 10. April 1944 brüllend über die Straße schleppt. Inmitten von Staub, Gedröhn und Feuer. Lupuline eilt ihm wie in ihren Träumen zu Hilfe und bringt ihn hinter einem umgestürzten Wagen in Deckung. Sie schreit um Hilfe. Sie weint um ihn in dem Chaos. Beuzaboc hat sein linkes Bein verloren. Oder auch nicht. Sie sieht nur einen Matsch aus Stoff und Fleisch. Rät ihm zur Flucht. Lehnt sich gegen ihn und schreit den Krieg an, dass er aufhören soll. Schmiegt sich in seine Arme. Sie hat Angst. Er beschützt sie. Bomben, Bomben, Bomben. Sie denkt an den Tod. Er an Wimpy. Den er gerettet hat und der jetzt zurückkommt, um sie vom Himmel aus zu verteidigen, und sie stattdessen quält. Das, denkt er, ist eben der Preis, den ich genauso bezahlen muss wie jeder andere. Auf der Trage verliert er das Bewusstsein. Davor flüstert er noch schnell seiner Tochter zu, sie soll sofort nach Hause laufen. So schnell sie kann. Sich einschließen, kein Licht anmachen, unter den großen Schrank, hinter die Matratze kriechen und warten. Nicht auf ihn, sondern auf den Tag. Denn er wird sterben, vielleicht, nein, sicher, der Schmerz ist fürchterlich. Das Fieber zerfrisst ihm den Kopf. Er hat Todesweh. Aber das versteht sie nicht.

    »Sie sagen ja gar nichts.«
    Nein, nichts. Beuzaboc ließ sein Bier stehen. Ich hatte meines ausgetrunken. Er schlug mir nicht vor, noch eins zu bestellen. Er lächelte. Sein müdes Beuzaboc-Lächeln. Einmalhatte er seinen Stock gehoben. Ich dachte, er würde gleich auf den Boden klopfen oder aufstehen. Doch nein. Nichts. Er wartete und beobachtete mich.
    »Sagen Sie mir nicht, dass Sie aufgeben.«
    Ich zuckte zusammen.
    »Nein, ich gebe nicht auf. Natürlich nicht.«
    »Lupuline hat gesagt, dass das Buch zu meinem Geburtstag fertig ist.«
    Ja, sagte ich. Es würde bestimmt fertig sein. Ein paar Szenen müsse ich noch schreiben. Ein, zwei vielleicht. Und das Ganze noch einmal lesen.
    »Sind Sie damit zufrieden?«
    Ich nickte. Ja, ich sei zufrieden. Es sei schön und traurig, tapfer und feierlich.
    Nein, keine Einleitung. Ich wolle seine Biographie nicht kommentieren. Sie würde sich lesen wie ein Wort um Wort gebauter Roman mit einer Lösung am Ende. Nein, auch Lupuline würde kein Vorwort schreiben. Sie wisse nichts von unserer Lüge.
    »Unsere Lüge?«, fragte Beuzaboc.
    Meine, seine, unsere, das konnte ich nicht mehr sagen. Sein Gesicht war versteinert.
    »Sie weiß also nichts?«, fragte er mich noch
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