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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman
Autoren: dtv
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der Rückseite: »Niemand hatte den Schuss gehört. Der Soldat fiel einfach rücklings von der Plattform, fast langsam. Als ob er über eine Stufe gestolpert wäre. Ich sah, wie ein anderer Deutscher ihm lachend die Hand hinstreckte. Ich hatte einen Menschen getötet, und sein Freund lachte. Dann steckte ich die Pistole in meinen Gürtel und fuhr davon.«
    Er hob den Blick und sah mich an. Wie vom Donner gerührt. Riss die Schutzhülle ab. Schlug das Buch auf. Blätterte es durch, wie man Geld nachzählt. Mit gefurchter Stirn und zornig hochgezogenen Brauen. Er hob den Kopf. Blickte mich wutentbrannt an. Begann zu begreifen. Ich hielt seinen stahlhellen Augen stand. Lupuline hatte nichts bemerkt. Sie erlebte diesen Moment wie eine glückliche Kindheit. Ihr Vater war einer Ohnmacht nahe, hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Lupuline hatte sich hinter ihn gestellt und ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Von dieser Geste verblüfft, drehte der alte Mann sich um. Sah seine Tochter an. Lächelte schwach. Niemand sprach, niemand rührte sich. Bewegte, ernste Gesichter.
    »Können wir?«, fragte die kleine Wasselin und kratzte an der Schutzhülle.
    Beuzaboc hob die Hand und sagte kaum hörbar: »Wenn ihr erlaubt, würde ich gern noch ein paar Worte dazu sagen.«
    Sein Blick bohrte sich in meine Augen, als wollte er sich sein Recht zurückholen. Er war schön mit seinem schmalen Mund, voll Leidenschaft und Mut. Er ließ seinen Blick überdie Frauen und Männer schweifen, mit denen er sein Leben teilte. Nickte und nahm seine Brille ab. Rieb sich den Rand seiner Lippen. Leicht gekrümmt stand er da, mit herabhängenden Armen, die Fäuste geballt. Dann sah er noch einmal zu mir hin, ohne Eis im Blick diesmal. Er wirkte erleichtert.
    »Unerträgliche Spannung«, bemerkte Jean-François Delsaut, sein bester Freund, mit einem Lächeln.
    Alle lachten. Auch Beuzaboc. Ein nervöses Lachen, das fast wie ein Schluchzen klang, wenn die Kehle nachgibt. Lupuline, die immer noch hinter ihm stand wie für ein Familienfoto, reckte sich zu ihrem Vater hoch und schlang die Arme um seine Schultern. »Mein Papa«, murmelte sie, ganz nah an seinem Ohr. Reichte ihm ein Glas Wasser. Er trank mit geschlossenen Augen, als wäre er allein. Wie in dem heißen Wohnzimmer, als Brumaire und Beuzaboc mir im Halbdunkel ihre Heldentaten zuraunten.
    »Ich werde euch vom Mut erzählen«, begann der alte Mann. Sein Gesicht belebte sich. »Nicht vom Mut in den Zeiten des Krieges, sondern vom Mut in Friedenszeiten.«
    Lupuline strahlte. Sie beobachtete die Gäste.
    »Ich habe euch belogen«, sagte Beuzaboc.

    Mir stockte der Atem, das Blut. Ich musste mich an die Wand lehnen. So hatte ich mir diesen Augenblick nicht vorgestellt. Ich hatte Beuzaboc sprachlos und mit gesenktem Kopf vor mir gesehen. Als alten Mann, der in feigem Schweigen verstockt am Tisch saß und darauf wartete, dass das Buch an seiner statt gestand. Ich wäre in dem Moment gegangen, wo jeder sein Exemplar aufgeschlagen hätte. Ohne zu zögern, ohne mich umzudrehen. Mein Zorn wäre verflogen gewesen,ich hätte ja meine Rache gehabt. Lupuline hätte ihr Exemplar rasch durchgeblättert und sich darüber gefreut, all die Geschichten aus ihrer Kindheit wiederzufinden, die sie in den Schlaf begleitet hatten: das Grab des Engländers, Wimpy, den Tod des Deutschen, das von Bomben zerfetzte und vom Feuer verbrannte Bein Tescelins. Sie hätte mich im Flur eingeholt und mich zum Dank auf die Wange geküsst. Ich hätte im Gedenken an meinen Vater zwar den ihren verraten, aber das hätte sie nie erfahren. Sie hätte gedacht, ich hätte das für sie getan. Und vielleicht recht gehabt.

    »Ich habe euch belogen. Dich, meine Tochter. Euch, meine Verwandten, meine Freunde. Auch dich, Jean-François. Nichts in dem Buch, das ihr in Händen haltet, ist wahr. Er sollte meine Lügen aufdecken, aber er hat sie nur nacherzählt.«
    Lupuline hatte die Arme sinken lassen. Sie war jäh erloschen. Schaute mich an. Sie, ich, wir beide, allein. Sie machte ein paar Schritte. Senkte den Blick, ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Der Tisch war in Schweigen verwaist. Niemand sagte ein Wort. Sogar die kleine Wasselin hatte begriffen, dass man jetzt nicht lachen durfte. Am Tisch sitzend, schaute Lupuline mich noch einmal an. Meine Ohnmacht und ihr Schrecken. Beuzaboc fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Und heftete seinen Blick auf Lupuline. Die anderen existierten nicht mehr, Doktor Goedert, Line Démory, die kleine Wasselin,
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