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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition)
Autoren: Michael Roes
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unter ihm wegrutscht, sodass er aus dem Sattel geworfen wird, auf die Straße stürzt und noch zwei Meter bäuchlings über den nassen Asphalt schrammt
.
    Anstatt ihm zur Hilfe zu eilen, umringt die johlende Rotte der Jugendlichen den Gestürzten, feuert aus ihren Hochdruckpistolen einen harten Strahl auf seinen Kopf ab und gießt weitere Wassereimer über seinen ohnehin schon vollkommen durchnässten Körper aus. Mit grenzenloser Wut springe ich vom Rad, so gewandt, als hätte ich es tausendfach geübt, und stürze mich auf die feixende Meute
.
    Sie scheinen nun ihrerseits von meiner Wut und meinem Angriff so überrascht wie ich zuvor von ihrem Wasserblitzkrieg. Ohne Gegenwehr machen sie mir Platz, damit ich Rafał aufhelfen kann. Doch kaum habe ich mich neben ihn gekniet, trifft mich ein kalter Schwall Flusswasser, der entweder für mich aufgespart oder vom nahen Ufer rasch herangeschafft wurde
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    Nun kann nicht einmal die Sorge um Rafał meinen Zorn dämpfen. Ich reiße dem erstbesten Jungen seinen Plastikeimer aus den Händen und beginne, damit wild um mich zu schlagen. Wieder diese verblüfften Gesichter, als sei ich es, der sich hier verrückt benimmt. Niemand scheint mit dieser Reaktion gerechnet zu haben, deswegen weicht zunächst auch niemand aus, bis ich die ersten wirklich hart an den Köpfen und Schultern treffe
.
    Es gibt Menschen, die schon als Kinder grundlos Hass auf sich ziehen. Ich habe einige gekannt, ja, sie bedauert oder mich, wenn auch selten, am Hass der anderen gegen sie beteiligt, mich aber nie mit ihnen verwandt gefühlt. Seit wann löst allein meine Gegenwart diesen plötzlichen Hass aus? Nicht, dass er mich wirklich überrascht, unter anderen Umständen hätte der Gewaltausbruch womöglich mein Einverständnis. Je grundloser der Hass, umso begreiflicher, annehmbarer erscheint er mir, die Augen der alten Frau, deren Enkel noch immer seine Star-Wars-Wasserkanone auf mich gerichtet hält, die Lippen vor Abscheu zusammengepresst, ich kenne sie nicht, bin ihr wissentlich nie zuvor begegnet, doch starrt sie mich an, als hätte ich ihren Enkel geschändet. Vielleicht habe ich es ja getan, in einem anderen Leben, von dem ich nichts mehr weiß. Vorstellen kann ich es mir durchaus, aber das dämpft meine Wut nicht, aufgebracht mehr über den Angriff auf Rafał als über jenen auf mich, der ja nicht wirklich unerwartet kam. Dass ich nun auch Rafał mit diesem Virus des Außenseiters angesteckt haben sollte, erzürnt mich
.
    Inzwischen ist Rafał aufgestanden, außer einigen Schürfwunden an seinen Händen und Knien scheint er nicht ernsthaft verletzt. Er ist es, der mir nun in den Arm fällt, mir mein Schlagwerkzeug aus den Händen windet und es dem Jungen zurückgibt, der den Eimer gerade noch über mich ausgegossen hat
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    »Beruhige dich, Asis!«, gebärdet er. »Alles ist in Ordnung!« – Immer noch verstehe ich nicht. Er sagt etwas zur Menge, dann zieht er mich zu unseren Rädern. Während wir sie zum Uferweg schieben, erklärt er mir, dass wir nicht Opfer einer fremdenfeindlichen Attacke, sondern eines Jahrhunderte alten Osterbrauchs geworden seien. An jedem Ostermontag, dem Emaustag, stürzten die jungen Männer sich auf wildfremde Menschen, um sie auf diese martialische Art zu ›taufen‹. – Hätte er mich nicht warnen können?
    »Meistens sind es ja Mädchen, die es erwischt«, gebärdet er, schon wieder lächelnd. »Und diejenigen, die aus Furcht, nass zu werden, den ganzen Tag zu Hause bleiben, werden, so sagt man, niemals einen Mann bekommen!«
    »Und was bedeutet das für mich? Muss ich mich nach dieser Zwangstaufe nun als Konvertit betrachten?«
    »Schon möglich. Mich hat man bei meiner ersten Taufe im zarten Alter von acht Tagen auch nicht nach meiner Einwilligung gefragt. So ist das nun mal unter Katholiken.«
    »Das ist unter Muslimen auch nicht viel besser!«, entgegne ich und weise mit einer vagen Geste auf mein beschnittenes Glied
.
    Dann liegt er endlich ungeschützt vor uns, der Fluss, dunkler in dieser Nähe, und zugleich silbriger, wie eine windbewegte Plastikfolie, die Simulation eines Flusses. Vielleicht, weil es im Jemen keinen einzigen Fluss gibt. Nur Trockentäler und plötzliche Überschwemmungen. Ein Fluss ist für uns etwas Abstraktes, Märchenhaftes, Unwirkliches wie die Freiheit, die Ziellosigkeit oder die Liebe
.

Ich danke der Stiftung Preußische Seehandlung Berlin und der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit (Villa Decius, Krakau) für ihre
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