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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition)
Autoren: Michael Roes
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Erziehung zu. Und sein Gefährte Chingachgook hat seine Stammespflicht als Gatte und Erzeuger ja redlich erfüllt. Was die beiden Freunde sonst im Dunkeln der Wälder miteinander treiben, geht niemandem etwas an.
    Er holt seine kurze schwarze Lederjacke aus dem Personalraum, löscht die letzten Lampen, ergreift meinen Arm und führt mich zur Hintertür, als sei ich ein Blinder. Dabei werfen die Notausgangsleuchten noch genug Licht, um nirgendwo anzustoßen oder zu stolpern.
    Nun stehen wir auf dem leeren Parkplatz. Die kalte Nachtluft macht mich ein wenig schwindlig. Ich vermute, einmal mehr ist das ungewohnte Feuerwasser schuld.
    »Wie kommst du nach Hause?«, fragt Rafał.
    »Ich nehme die erste Straßenbahn,« erwidere ich.
    »Die erste Straßenbahn nach Nowa Huta fährt um fünf«, entgegnet er. »Du willst doch nicht drei Stunden an der Haltestelle sitzen. Da bist du ja eher zu Fuß zu Hause.«
    Ich zucke gleichgültig mit den Schultern. Auch das ist wohl eine Wirkung des Fusels, denke ich. Denn diese Gleichgültigkeit ist nicht gespielt. Im Augenblick ist mir tatsächlich alles gleich.
    »Schlaf heute Nacht bei mir!«, schlägt Rafał vor.
    »In Łobzów?«
    »Was hast du gegen Łobzów? Ist auch nicht trister als Nowa Huta. Liegt aber näher.«
    »Wo steht dein Wagen?«
    »Mein Wagen? Hab ich schon vor Monaten verkauft.« – Rafał grinst. »Dort steht mein Fahrrad. Reicht vollkommen für die Innenstadt.«
    Ich mustere nicht ohne Misstrauen das rostige Gestänge, das er Fahrrad nennt. Zumindest einen Diebstahl muss er nicht fürchten.
    »Setz dich auf den Gepäckträger«, fordert er mich auf.
    Ich zögere.
    »Oder willst du fahren, und ich setze mich nach hinten?«
    »Ich kann nicht Rad fahren«, gestehe ich.
    Nun lacht Rafał frei heraus. »Gibt es im Jemen keine Drahtesel?«
    »Zumindest in meiner Kindheit gab es sie nicht. Es gab ja nicht einmal asphaltierte Straßen in Ibb, auf denen man hätte fahren können.«
    »Ich werde es dir beibringen«, gebärdet er grinsend. »Ist einfacher, als es aussieht. Im Haus meiner Mutter müsste noch ein unbenutztes Rad herumstehen.«
    Ich bin nicht überzeugt, ob es wirklich so leicht ist. Natürlich kann jeder Idiot Rad fahren, wie jeder Idiot laufen oder schwimmen kann. Aber nur, wenn er es in früher Kindheit gelernt hat. Als Erwachsener sehen diese scheinbar so einfachen Dinge schon ganz anders aus. Mit Neunundzwanzig wird man nicht mehr lernen, sich wie ein Fisch im Wasser zu bewegen oder ein Fahrrad als eine ganz natürliche Erweiterung des eigenen Fortbewegungsapparates zu empfinden.
    Rafał beachtet meine Zweifel nicht weiter und sitzt schon im Sattel. »Nun komm schon. Es ist kalt! Halte dich an meinen Schultern fest!«

Vor dem Klasztor Siostr Norbertanek, dem Kloster der Prämonstratenserinnen geschieht es dann. Wir sehen die überraschend große Schar der Kirchgänger zwar, auch eine gewisse Unruhe unter ihnen nehmen wir wahr, schreiben es aber dem hohen Feiertag zu, Smygus Dyngus, Ostermontag, Emmaustag. Wir jagen also noch trotz Stoppschild und roter Ampel in voller Fahrt auf den Klostervorplatz zu, die Fassade zur Hauptstraße hin fast fensterlos, Fensternischen sind durchaus vorhanden, aber allesamt zugemauert oder von vornherein nur als dekoratives Element angelegt, eine Festung, ein Zuchthaus, wie die Kassematten um die Kościuszko-Aufschüttung, Abgeschlossenheit und Strenge, und davor die Versammlung der Gläubigen, Bewohner jener Villen des Salwator-Viertels mit Blick auf den gezähmten Strom, doch selbst vom Frühlingshochwasser, wenn nur noch die Kirchtürme der Altstadt aus den trüben Fluten ragen, auf ihrem Erlöserhügel nicht bedroht, und unter ihnen und zugleich streng von ihnen getrennt, noch in Deckung, aber bereits auf der Lauer, kleine Jungen mit Wasser-MGs, junge Männer mit Hochdruckwasserwerfern, die Kanister wie zwei Sauerstoffflaschen auf den Rücken geschnallt, und die technisch Anspruchsloseren mit gelben und grünen Plastikeimern voller Weichselwasser bewaffnet. Jung und Alt trennt ein Abgrund: der Tod. Wir ahnen es, bevor wir es erfahren. Die Jungen ersehnen ihn, die Alten fürchten ihn
.
    Rafał schießt zwei Fahrradlängen voraus auf die Menge zu, die vor ihm zurückweicht, sich spaltet, öffnet. Dann erwischt ihn der erste kalte Wasserschwall, trifft ihn vollkommen überraschend. Die Wucht des Wassers wirft ihn fast vom Rad, das nun bei seinem Ausweichmanöver auf dem plötzlich nassen Pflaster ins Schleudern gerät und
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