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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition)
Autoren: Michael Roes
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wünscht, ein Schweißbrennerviolett, ein Wartezimmergrün, ein Knautschlackrosa … Die bonbonfarbenen Strahlen werden von den schwarzen Wänden regelrecht aufgeleckt und verschwinden restlos im Nichts. Nicht einmal der Schatten einer Reflexion ist auf diesen Höhlenwänden noch wahrnehmbar.
    Erst auf den zweiten Blick erkenne ich die schwarzen Gitter, die vom Boden bis zur Decke vor den schwarzen Wänden stehen. Selbst an der Decke hängt ein schwarzes Gitter, an dem die Spots und die Lautsprecherboxen befestigt sind. Die Bässe wummern fast sichtbar durch den niedrigen Raum, schlagen mir brutal in den Magen, die Leber, die Nieren.
    Die beiden anderen Gäste zu dieser frühen Stunde sind ein älterer, bärtiger Mann im Angestelltenanzug und eine halb so alte, üppige Blondine in einem engen schwarzen Kleid. Furchtlos sitzen beide an einem Tisch in der Mitte des Raums.
    Sie steht auf, schreitet auf ihren hohen Absätzen mit aufreizender Anmut zum Tresen, eigentlich nur üppiges goldenes Haar und lange schwarze Beine, weil der Rest ihres Körpers im Schwarz auf Schwarz des Dekors verschwindet. Sie wechselt einige Worte mit dem Barkeeper und kehrt mit zwei Drinks zu ihrem schwarzen Tisch und graubärtigen Angestellten zurück. Es ist nur ein kurzes Einknicken, nicht einmal ein Stolpern, aber ein Riss in der femininen Perfektion, eine Unsicherheit, die die Anstrengung, mit der sie Grazie vortäuscht, plötzlich sichtbar macht. Doch vielleicht brauchen wir ja diese kleine Irritation, diesen Riss oder Spalt in unserer Fassade. Ohne diese kleinen Makel gäbe es keine Hoffnung auf Vervollkommnung.
    Offenbar holt man sich die Drinks hier selbst. Also verlasse ich meinen Außenposten, und unversehens stehe ich vor ihm, im hellen Tresenlicht, dem einzigen gut ausgeleuchteten Bereich in diesem Schuppen. Wenn er von meinem Auftauchen überrascht sein sollte, so lässt er sich nichts davon anmerken. Ich weiß nicht, ob ich ihn auf der Straße gleich wiedererkannt hätte. Die weichen, schulterlangen Locken hat er sich abgeschnitten und trägt sein Haar nun soldatisch kurz. Unter den bis zum Oberarm hochgekrempelten schwarzen Hemdärmeln lugt der Ansatz eines Tattoos hervor, die Schwanzflosse eines Delphins oder Hais.
    Er war immer schon sportlich, spielte Tennis und ging Segeln. Aber in den vergangenen Monaten scheint er systematisch an jedem seiner Muskel gearbeitet zu haben, und die strammsitzende Hose und das engtaillierte, bis zur Brust aufgeknöpfte Hemd zeigen freizügig die Früchte dieser Arbeit. Wüsste ich es nicht besser, müsste ich diesen aufreizenden jungen Mann für eine Art Gigolo halten.
    »Was möchtest du trinken?«, gebärdet er fehlerlos. Was auch immer seiner Amnesie zum Opfer gefallen sein mag, die Beherrschung der Gebärdensprache fällt nicht darunter.
    Ich setze mich auf einen der Barhocker und sehe ihm zu, wie er einen alkoholfreien Cocktail für mich mixt. Ich habe keine Ahnung von diesen Dingen, aber das, was er da verrichtet, sieht äußerst professionell aus. Seine Handgriffe und Gesten wirken selbstsicher und routiniert. Und das Rühren, Mixen und Schütteln nimmt geradezu den Charakter einer kleinen Choreografie an.
    Ich nippe an dem schlanken, am Rand gezuckerten Glas und schmecke Kokosnuss, Ananas, Vanille und Zimt heraus. Das genaue Rezept bleibt sein Geheimnis.
    »Wie geht es dir?«, frage ich ihn endlich.
    »Gut«, antwortet er kurz, aber nicht unfreundlich. Sein Gesichtsausdruck ist ernst, offenbar meint er das, was er sagt.
    »Machst du noch Musik?«
    Er weist auf die schwarzen Boxen. »Habe ich selber zusammengemixt!«, gebärdet er lächelnd.
    »Ich meine, ernste Musik, neue Musik. Komponierst du noch?«
    »Das ist ernste und neue Musik, Asis! Wenn du von ›Klassik‹ sprichst, muss ich dir sagen, dass mir dieser ganze avantgardistische Mist inzwischen nur noch tierische Kopfschmerzen bereitet. Sollen sich verrückte Musikprofessoren diesen Tumorklängen aussetzen!«
    »Und das, was du hier tust, macht dich glücklicher?«
    »Sehe ich etwa unglücklich aus?«
    Darauf weiß ich keine Antwort. Nein, unglücklich sieht er nicht aus. Aber alles an ihm ist anders als der frühere Rafał. Ich kann nicht glauben, dass ein Mensch sich so radikal verändern kann.
    War denn der früher so unbeschwerte, heitere und zuversichtliche Rafał nicht glücklich? Wenn dem so war, habe ich es nicht bemerkt. War es nicht gerade diese ständige Unbeschwertheit, die mich am meisten abgestoßen hat?
    Langsam
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