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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition)
Autoren: Michael Roes
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Gewächs, das zugegebenermaßen nicht hierher gehört, ein exotischer, ausländischer Baum, der aber gleichwohl Schatten gespendet und Vögeln Unterschlupf gewährt hat. Der Kleine, Gedrungene mit der verfilzten Wollmütze auf dem kantigen Schädel steht breitbeinig am Fuß der Leiter und drückt die Holme gegen den ungewöhnlich gerade gewachsenen Stamm. Glatt und ebenmäßig wie eine Steinsäule wächst er vier, fünf Meter in die Höhe, ehe seine fast kugelrunde Krone sich entfaltet, die nun von Yin oder Bonny oder Stan ihrer Ebenmäßigkeit beraubt wird. Was hat der Baum ihnen getan? Er hat nicht nur in keiner Weise gestört, er hat in den heißen Sommermonaten den Hof auch vor einer zu großen Aufheizung geschützt, da sein Laubdach bisher gut die Hälfte des ansonsten unbegrünten und asphaltierten Hofs beschattet hat.
    Aber die beiden Dioskuren wissen vermutlich selbst nicht, warum sie an diesem kühlen Frühlingsmittags an der Krone des Hofbaums, dessen Namen und Herkunftsland sie höchstwahscheinlich genauso wenig kennen wie ich, herumsägen.
    Dauernd verrichten sie unerklärliche oder überflüssige Tätigkeiten im Hof, im Werkzeugschuppen, vor dem Wohnblock, im Treppenhaus oder in ihrer Hauswartswohnung, die sie miteinander teilen, und aus der die Erschütterungen von Bohrern, Hämmern und Schleifmaschinen sich regelmäßig und ungedämpft bis in meine eigenen vier Wände ausbreiten.
    Bin ich der einzige, der sich darüber aufregt? Alle Fenster zum Hof sind geschlossen. Niemand, der auch nur nachfragt, was Gilgamesch und Enkidu dort treiben. Gibt es denn keine Schutzbestimmungen für Hofbäume, und seien sie auch exotischer Natur? Vielleicht sollte ich die Polizei verständigen, Kettensägenmassaker in meinem Hinterhof inmitten der Vegetationsphase …
    Vergeblich versuche ich, mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren. Solange das Komikerpaar den Hofbaum malträtiert, übertönt das tiefe Grollen und Beben des Massakers alle Gedanken. Mir ist, als hätten sie ihre Kettensäge direkt an meinem Hirnstamm angesetzt. Hilflos schaue ich ihrer hingebungsvollen Arbeit zu. Besäße ich eine Schleuder oder ein Gewehr, ich würde die Waffe jetzt benutzen.
    Sie sägen systematisch alle jungen Triebe von den Ästen. Nach zwei Stunden ist nur noch das nackte, grauschwarze Astgerippe übrig. Sie beginnen, die ersten Frühlingsfarben im Hof zusammenzukehren und in die Tonne für die biologischen Abfälle zu stopfen.
    Hier kann ich nicht bleiben. Ich packe nur ein altes Handtuch ein und verlasse zu dieser ungewöhnlichen Stunde meine Wohnung.
    Die Sauna liegt in Kazimierz, gar nicht weit vom
Cao Dai
entfernt. Schin, ein Cousin von Hu und unser Koch, hat sie mir empfohlen. Lu Wei, ein weiterer Cousin der beiden, habe sie erst vor Kurzem eröffnet. Ich solle nur sagen, ich sei ein Arbeitskollege von Schin, dann käme ich für den halben Preis herein.
    An der Klingel steht ›Privatclub‹. Eigentlich kann ich mir selbst das halbe Eintrittsgeld nicht leisten. Aber wenn ich mich jetzt nicht unter Menschen begebe, werde ich verrückt.
    Ich ziehe mich aus, schlinge mir das vom vielen Waschen ergraute Handtuch um die Hüften, lasse Duschen, Dampf- und Trockensauna, Whirlpool und Tauchbecken und die Korridore mit den schmalen, nach Gummi und ranzigen Cremes riechenden Kabinen links liegen und begebe mich gleich in den nahezu lichtlosen ›Ruheraum‹, eine schwarze Höhle mit fünf oder sechs feuchten Matratzen, auf denen nackte Leiber Haut an Haut beieinander liegen.
    Es ist schwülwarm und es stinkt in diesem schlecht belüfteten Raum. Ein Vorhang aus schwarzen, handbreiten Gummilamellen trennt ihn von dem Orangenschalenlicht des Sauna- und Barbetriebs. Aber ich will niemanden sehen, von niemandem gesehen werden, will nicht auswählen, nicht gewählt werden, niemanden anmachen und mit niemandem flirten. Will nicht zurückgewiesen und nicht vollgequatscht werden, und schon gar nicht will ich schwitzen oder ins Eiswasserbecken tauchen oder sonst etwas für meine innere oder äußere Abhärtung tun. Ein wenig grob erobere ich mir einen Ruheplatz zwischen den nackten, teigigen Leibern, strecke mich aus, linker und rechter Hand zwei vollkommen unbekannte, gesichtslose Menschen, die ihre Arme und Beine nicht zurückziehen, sich aber auch nicht mehr, als die Enge es erzwingt, an mich pressen.
    Sie lassen mich eine Weile ruhen, zu mir finden, herunterkommen, während ich weiter entfernt, an den Rändern dieses Ruheraums Bewegung
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