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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition)
Autoren: Michael Roes
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sie mich an, erstaunt, dass ich immer noch dastehe und ihr den Block hinhalte.
    »Ich kenne seine Adresse nicht«, schreibt ihre kleine weiße Hand mit den kurzgeschnittenen Fingernägeln auf meinen Block, »aber er arbeitet nun in irgendeiner Bar in Kazimierz.« Sie zögert. Ich rieche die Müdigkeit, die aus ihren Kleidern, ihren Haaren, ihrer Haut aufsteigt. Von einem gewissen Alter an ist die Wahrheit nur noch widerwärtig. All die Schlacken, all die Gifte, die sich in den Poren angesammelt haben und nicht mehr herausgeschwemmt werden können!
    »Er war lange nicht mehr hier«, fährt sie fort. »Bitte grüßen Sie ihn von seiner Mutter!«
    Dann nickt sie mir noch einmal kurz zu, mit dem harten, mir von unserer ersten Begegnung noch in Erinnerung gebliebenen Gesichtsausdruck, als wolle sie mir sagen, in Wahrheit sei wohl alles, was wir beklagen, nicht erreicht zu haben, nicht erreichbar gewesen, streift mit ihren rauen Fingerspitzen kurz den Rücken meiner Schreibhand und kehrt in das große leere Haus zurück.
    Ibb. Niemand erkennt mich wieder. Zu Besuch bei Fremden. In einem traditionellen Restaurant an der Straße zum Suq bietet man mir Suppe an. Ich habe sie bereits zur Hälfte ausgelöffelt, als ich bemerke, dass sie neben Gemüsestücken auch Fleisch enthält, ein halbes Dutzend neugeborener Katzenbabys in ihren verklebten Fellen, von denen sich einige noch bewegen. Entsetzt lasse ich die Schüssel fallen. Die anderen Gäste essen gleichgültig weiter. Ich rufe nach dem Koch. Ein kleiner freundlicher Mann kommt aus der Küche und wischt sich die Hand an der schmutzigen Schürze ab, ehe er sie mir reicht. Ich zeige auf die verschüttete Suppe. Immer noch strampeln zwei, drei Neugeborene mit geschlossenen Augen in der Pfütze.
    »Hat sie dir nicht geschmeckt?«, fragt der Koch besorgt. Mir versagt vor Ekel die Stimme. Und während ich noch um Worte ringe, reißt mich ein markerschütterndes Beben vom Hof her aus meinen Gedanken. Inzwischen ist es Mittag. Aber ich verspüre keinerlei Appetit.
    Mir wird bewusst, dass mein Ekelgedächtnis ebenso gut funktioniert wie mein Angstgedächtnis. Alle entsetzlichen Geschmacks- und Geruchserlebnisse seit früher Kindheit fallen mir wieder ein. Offenbar ruft das am meisten Ekel in uns hervor, was wir uns zufällig oder gezwungenermaßen
einverleibt
haben. Womöglich diente uns dieses elementare Gefühl einmal als Schutz vor Verdorbenem und Krankmachendem.
    Und wenn man selbst der Einverleibte ist, mittendrin steckt in der Scheiße, im Erbrochenen?
    Früher habe ich mich doch für einen Aristokraten gehalten, soweit man als Kind schon einen Begriff von dieser Haltung hat; für einen stolzen, unbeugsamen Kabilen, ganz gleich, welcher Profession der eigene Vater nachgeht, solange nur der Name unbeschmutzt und geachtet bleibt; für einen aristokratischen und stolzen Menschen, der gibt, der etwas zu geben hat, ohne dafür etwas zurückerhalten zu wollen. Was ist aus diesem Menschen geworden?
    Ein Mann des ›Ressentiments‹; ein Mensch, der sich für zu kurz gekommen hält, für notleidender, als er es verdient; der nimmt oder sogar annehmen muss, ohne über genügend Mittel zu verfügen, um zurückzugeben.
    Der Preis für ein schnödes Dach über dem Kopf ist der verletzte Stolz.
    Du hast Melodien im Kopf? Dann geh zum Neurologen und lass dir ein paar Elektroschocks verschreiben! Du bist gekränkt, weil deine Kompositionen keinen Erfolg haben? Dann wechsle den Beruf! Und stell etwas her, was die Menschen wirklichen gebrauchen können! Du willst sie erziehen, deine kopfschmerzerregenden Geräusche nicht nur zu ertragen, sondern sie auch noch zu mögen? Mit welchem Recht? Sie suchen in der Musik den Genuss und nicht die Arbeit. Sei froh, dass du deine eigenen Kompositionen nicht hören musst! Du hörst sie doch, andauernd? Rechtfertigt das etwa, andere derselben Qual auszusetzen? Stell dir vor, wir müssten ständig an den Obsessionen unserer Mitmenschen anteilnehmen! Wir wären längst wahnsinnig!
    Hört der Lärm denn gar nicht mehr auf! Es fühlt sich an, als würde ein Panzer durch den Hof rattern, aber dazu ist die Zufahrt natürlich viel zu eng.
    Klar, ich hätte es mir doch denken können! Diese beiden lächerlichen Hauswartsbrüder – wie soll ich sie nennen, Yin und Yang? Castor und Pollux? Bonny und Clyde? – sind wieder zugange. Der Hagere, Grauhaarige steht auf der Leiter und säbelt mit einer Kettensäge Äste aus der Krone des einzigen Baumes im Hof, ein
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