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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition)
Autoren: Michael Roes
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Der behandelnde Arzt glaube, fährt Wojtek fort, der Gedächtnisverlust sei eine Folge der schweren Kopfverletzungen. Er mag es offenbar, sich mit mir in einer Art überdeutlicher Kindersprache zu unterhalten. Darüber hinaus habe man Rippenprellungen, gebrochene Finger und ein geplatztes Trommelfell diagnostiziert. Übrigens sei am Morgen auch schon die Polizei dagewesen. – Wojtek lächelt. Natürlich konnte der junge Singer sich auch nicht an die Ereignisse erinnern, die zu seinem Gedächtnisverlust geführt hätten.
    Ich sitze an seinem Bett. Die Daunendecke wölbt sich kaum über die Matratze, wirkt so flach, als läge gar kein Körper darunter, zumindest kein vollständiger. Rafał hält die Augen geschlossen. Ich glaube nicht, dass er schläft. Aber vielleicht erkennt er ja auch mich nicht wieder und fragt sich, was nun dieser neuerliche Fremde mit dem abweisenden Gesicht von ihm wolle. Die Zeit dehnt sich zäh in die Länge. Was mache ich hier?
    Über dem Bett hängt ein Kreuz. Ich weiß nicht, ob das jemandem gefällt, der nicht einmal Weihnachten feiert. Unsere Gottheiten sind zu Krankheiten geworden, denke ich.
    Als ich finde, der Höflichkeit Genüge getan und ausreichend Lebenszeit abgesessen zu haben und mich aus dem Krankenzimmer schleichen will, ich und Gott in einem Zimmer, das ist noch nie lange gut gegangen, gibt Rafał mir mit seinen bandagierten Händen ein Zeichen. Mag er auch die eigene Mutter nicht wiedererkennen, die Gebärdensprache hat er offenbar nicht vergessen.
    »Du musst nicht wiederkommen«, gebärdet er, wie ein Mann mit ausgeschlagenen Zähnen spricht. »Spätestens in einer Woche bin ich hier raus, mit oder ohne Segen des Arztes.«
    Mehr braucht es offenbar nicht, meinen Trotz zu provozieren und mich nun erst recht zu täglichen Besuchen zu verpflichten. Das Einanderquälen und Zurlastfallen gehört zur Kur.
    Er ist nicht mehr derselbe Mensch, den ich kannte oder zu kennen glaubte. Vielleicht hat er ja wirklich alles von dem vergessen, was er mal war, auch wenn ich das nicht glaube. Ich habe nach wie vor den Eindruck, als wolle Rafał sich gar nicht erinnern. Aber war es denn nicht ein überaus reiches und angenehmes Leben, das er bisher führen durfte? Welchen Grund gäbe es, alle diese Erinnerungen auszulöschen und noch einmal ganz von vorne zu beginnen? – Womöglich habe ich ja unrecht, denn ich verstünde diesen neuen Rafał nicht.
    Auch ich scheine nun für ihn ein Fremder zu sein. Ich finde nichts mehr von seiner früheren, mir so lästigen Zuneigung, seiner Unbeschwertheit, seinem Charme in ihm. Es ist, als hätten wir die Rollen getauscht. Mürrisch und schweigsam liegt er während meiner Besuche da, gibt mir mit keiner Geste zu verstehen, dass er sich über mein Kommen freut oder mich auch nur wiedererkennt. Sein Gesicht nimmt zwar jeden Tag ein bisschen mehr von seiner ursprüngliche Form und Farbe wieder an, doch suche ich die früheren Züge von Empfindsamkeit und Mitgefühl darin vergebens. Und wenn ich, des Schweigens überdrüssig, seine Hand ergreife, um überhaupt irgendwie mit ihm in Verbindung zu treten, liegt sie wie tot in meiner Hand, bis er sie mir nach einigen Augenblicken fast beiläufig wieder entzieht.
    An einem Nachmittag, als er bereits aufstehen und kurze Strecken alleine gehen darf, bringe ich ihm die letzten Seiten meiner Marsyas-Partitur mit. Ich habe sonst nie jemandem außer Adam Auszüge der Stücke, an denen ich noch arbeite, gezeigt. Ich weiß, der frühere Rafał hat sich nach diesem Vertrauen gesehnt. Doch war ich zu eifersüchtig, um ihn so nah an mich heranzulassen und das Wichtigste in meinem Leben mit ihm zu teilen, auch wenn ich nie gefürchtet habe, er würde dieses Vertrauen jemals missbrauchen und meine Arbeit in irgendeiner Weise beschädigen. Nein, vielleicht hätte er sie sogar bereichert, mir meine Zweifel genommen, meinen Mut bestärkt.
    Nun wirft er nur einen kurzen Blick auf meine Entwürfe und fragt, was das sei. Ich verstehe seine Frage nicht. Ist es möglich, dass auch die Fähigkeit, eine Partitur zu lesen, aus seinem Gedächtnis gelöscht worden ist? Ich kann es mir nicht vorstellen. Trotzdem erkläre ich ihm wie einem des Lesens unkundigen Kind, um was es sich handelt, und komme mir dabei wie ein Idiot vor. – Er zuckt nur die Achseln und sagt, das alles interessiere ihn nicht.
    Als ich am nächsten Tag wiederkomme, liegt ein Fremder in Rafałs Bett, kein metaphorisch Fremder, sondern ein realer Fremder, ein
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