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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels
Autoren: Félix J. Palma
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Doch jetzt berührten ihn diese winzigen Abweichungen, die zwar nichts wesentlich veränderten, ihm aber doch zeigten, dass dies nicht seine eigentliche Wirklichkeit war. Nein, das war sie nicht. Sie sah zwar genauso aus, unterschied sich jedoch in unwesentlichen Kleinigkeiten. Zwei davon hatte er jetzt entdeckt, doch gewiss gab es jede Menge weitere. Es war, als würden die kleine Narbe am Kinn und der auffällige karierte Anzug ihm ins Ohr flüstern, dass seine eigentliche Welt eine andere war.
    Aber warum war er nicht in seiner? Wells war durch die Zeit gereist bis 1829 , dem Jahr, in dem er eine Veränderung herbeigeführt hatte, die bedeutend genug war, um die Zukunft zu einer anderen zu machen; dann hatte er einen Zeitsprung bis ins Jahr 1865 vollzogen, dem Jahr vor seiner Geburt, und sich dort in der Welt wiedergefunden, die er selbst verändert hatte. Die einzigen Veränderungen, die es in seiner Umgebung also geben durfte, konnten nur welche sein, die mit der Vernichtung des Marsmonsters zu tun hatten. Zu glauben, dazu gehöre auch, dass sein Doppelgänger sich einen karierten Anzug gekauft hatte, fiel ihm schwer. Es konnte eigentlich nur bedeuten, dass er – aus einem ihm unverständlichen Grund – nicht in dieselbe Zeitebene zurückgekommen war, von der aus er aufgebrochen war. Nein, er war in einer anderen Wirklichkeit gelandet, die zwar ähnlich, aber nicht identisch war.
    Kopfschüttelnd dachte Wells darüber nach, während er beobachtete, wie Clayton zu seinem Doppelgänger zurückging. Er war von seinen eigenen Schlussfolgerungen überrascht; dennoch bestand die Möglichkeit, dass er recht hatte. Was, wenn sich die Zeitreisen nicht auf ein und derselben Zeitschiene abspielten? Wenn das, was er Paralleluniversum nannte, nicht erst durch eine herbeigeführte Veränderung zustande kam, sondern bereits vorher existierte? Wells stellte sich ein Universum zahlloser übereinanderliegender Wirklichkeiten vor, in denen alles passieren konnte oder vorstellbar war und deren Schichten sich – je nach Nähe oder Entfernung – durch unbedeutende Kleinigkeiten wie einen karierten Anzug oder durch weltbewegende Taten wie die Vernichtung einer Kreatur aus dem Weltraum voneinander unterschieden.
    So konnte es Welten geben, in denen die Dampfmaschine noch nicht erfunden oder die Sklaverei noch nicht abgeschafft war; in denen es noch nie eine Choleraepidemie gegeben hatte; in denen am Südpol keine Meereselefanten lebten oder Shelley nicht mit der
Don Juan
untergegangen, Darwin hingegen beim Untergang der
Beagle
ertrunken wäre; oder Jack the Ripper nicht Mary Kelly in der Nacht des 7 . November, sondern erst zwei Nächte später umgebracht hätte. Es gab unzählige Möglichkeiten. Und in all diesen Welten würde es einen Doppelgänger von ihm geben, einen weiteren Wells. Es gäbe einen Wells, der ihm aufs Haar glich, aber allergisch auf Austern reagierte; einen Wells, der nicht Schriftsteller, sondern Professor war; einen Wells, der so unerträgliche Romane wie Henry James schrieb; und natürlich einen, der nicht durch die Zeit reisen konnte … Hunderte, Tausende, endlos viele Wells in einem ebenfalls endlosen Universum. Und er konnte von einer Wirklichkeit zur anderen springen? Besaß er tatsächlich dieses … Talent? Diese Krankheit? Oder war Fluch das richtige Wort? Wie immer man es nannte, es erlaubte ihm, von einer Welt zur anderen zu springen, und darum war er nicht in die eigene Vergangenheit gereist, sondern in eine andere, die sich in einem Paralleluniversum befand. In eine Vergangenheit jedoch, in der der Gesandte ebenfalls mit seinem Raumschiff abgestürzt war, in der die
Annawan
gleichermaßen vom Eis eingeschlossen worden war, denn darüber hinaus gab es Tausende andere Wirklichkeiten, in denen diese Ereignisse nicht stattgefunden hatten; eine Vergangenheit also, die sich nur in einem so winzigen Detail von der seinen unterschied, dass er völlig unbemerkt in sie hineingetrudelt war. Und nachdem er den Gesandten beseitigt hatte, war er in eine parallele Zukunft gereist, in der sein Doppelgänger einen so verwegenen Geschmack in Kleiderfragen an den Tag legte, den
er
sich niemals zugetraut hatte.
    Eine Welt, dachte er plötzlich, in der der Gesandte vielleicht gar nicht vernichtet worden war. Schaudernd richtete Wells seinen Blick auf den Flugapparat und fragte sich unwillkürlich, ob nicht tatsächlich ein Marsungeheuer daraus zum Vorschein käme.
    Im selben Moment begann sich der Deckel der
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